Der zähe Nebel über dem Pazifik
Vor 50 Jahren fand der größte Atomtest Amerikas statt.
Mit Folgen bis heute. Doch Wissenschaftler wie Politiker schweigen. Von Sebastian Pflugbeil
Vor wenigen Tagen, am 21. April, öffneten sich die Gefängnistore für einen Mann, der den Friedensnobelpreis seit langem verdient hätte. Es handelt sich um Mordechai Vanunu, der vor 15 Jahren die Weltöffentlichkeit darüber informiert hatte, dass Israel im Besitz von Atomwaffen ist. Inzwischen hat Israel mehrere hundert Atomsprengköpfe, hält das aber nach wie vor geheim und unterwirft sich keinerlei Kontrolle. Angesichts der ausführlichen Diskussion um Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten und dem daran festgemachten Irak-Krieg ist es überfällig, in aller Schärfe auch über die israelische Atomstreitmacht zu reden. 50 Jahre vor der Freilassung von Vanunu fand der legendäre »Bravo« Test der Amerikaner auf dem Bikini-Atoll statt. Wir erinnern an diesen Test und seine Folgen stellvertretend für all das Leid, das die Atomwaffenstaaten schon zu Friedenszeiten zu verantworten haben.
Lijon Eknilang war damals acht Jahre alt. Sie berichtete genau, wie sie am 1. März, ihrem Geburtstag morgens, den gewaltigen Lichtschein sah, den Donner und das Beben der Erde wahrnahm und wie später eine riesige Wolke auf das Rongelap-Atoll zukam und dann stundenlang weißer Puder auf die Insel »herunterschneite«. Die Kinder spielten in dem »Schnee«, sie hatten von den Missionaren gehört, dass es in deren Heimat Schnee gäbe, sie tranken Wasser, das sich eigenartig verfärbt hatte. Am gleichen Tag setzten die ersten Beschwerden ein. Übelkeit, Kopfschmerzen, die Haut brannte wie Feuer, am nächsten Tag hatten sie große Brandwunden an den Beinen, an Armen und am Kopf, viele verloren die Haare. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sie es mit Radioaktivität zu tun hatten.
Was war geschehen? Vor 50 Jahren, am 1. März 1954, wurde von den USA die Atombomben-Testexplosion »Bravo« gezündet. Es handelte sich um eine KernspaltungsKernfusionsbombe mit einer Sprengstärke von etwa 15 Mt, also dem knapp 1000fachen der Hiroshima/Nagasaki-Bomben. Es sollte die größte atmosphärische Testexplosion der USA bleiben, nur die Russen gingen auf Novaja Semlja, der großen Insel im Nordmeer noch darüber hinaus. Bei ihrer 50 Mt-Explosion bekamen alle Atomwaffenbauer Angst, dass noch stärkere Explosionen die Erde und die Atmosphäre ernsthaft in Gefahr bringen würden. Die Bravo-Explosion ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert.
Erst zweieinhalb Tage nach dem Fallout kamen die Amerikaner und brachten die Einwohner von Rongelap auf den Militärstützpunkt auf dem Kwajalein-Atoll. Hab, Gut und Vieh blieben auf Rongelap zurück. Drei Jahre später versicherte die US-Atomenergiekommission, dass nun alles in Ordnung wäre, die Einwohner von Rongelap wurden in ihre Heimat zurückgebracht. Bald bekamen sie erneut Beschwerden, ihnen war schlecht, sie bekamen Bläschen auf den Lippen und im Mund, hatten Magenschmerzen. Und Anfang der 60er Jahre ging es los mit Schilddrüsentumoren, Totgeburten, Augenkrankheiten, Leber- und Magenkrebs und Leukämie. Es blieb unberücksichtigt, dass das Rongelap-Archipel 1957 alles andere als sauber war. Man konnte mit einfachen Geigerzählern zwar keine großen Ausschläge mehr feststellen, in der Zwischenzeit hatten aber viele Radionuklide ihren Weg in der Nahrungskette genommen. Eines der lange übersehenen Isotope war Zink-65.
Lijon Eknilang stammt aus einer für diese Situation typischen Familie: Ihre Großmutter starb in den 60er Jahren an Schilddrüsen- und Magenkrebs. Ihr Vater starb 1954, nachdem ihn der Fallout beim Fischen auf dem Meer überrascht hatte. Ein Vetter starb 1960 an Krebs, ein anderer 1972 an Leukämie, Zwei Schwestern wurden 1981 an der Schilddrüse operiert. Sie selbst hatte sieben Fehlgeburten. Lijon Eknilang ist der Einladung des Pazifik-Netzwerkes nach Deutschland gefolgt, um über den Bravo-Test und seine Folgen zu berichten.
Niemand redet gerne über die vielen Fehlgeburten, über schwer missgebildete Kinder, die als »Kraken«, »Äpfel« oder »Schildkröten« bezeichnet werden. Bekannt wurden die »Quallenbabies«, die mit durchsichtiger Haut und ohne Knochen geboren werden, man kann das Gehirn und das schlagende Herz sehen, sie haben keine Beine, keine Arme, keinen Kopf, bewegen sich einige Zeit und sterben dann. Viele Frauen starben an anormalen Schwangerschaften. Die USA-hörige Regierung der Marshall-Inseln weigerte sich, die Probleme anzuerkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb hat Greenpeace 1985 in einer spektakulären Aktion die Einwohner von Rongelap ein zweites Mal evakuiert.
Der Zynismus der USA wird aus einer Äußerung des Energieministeriums zur Rückkehr der Bewohner nach Rongelap im Jahr 1957 deutlich: »Obwohl die radioaktive Verunreinigung der Rongelap-Insel als für menschliche Ansiedlungen völlig ungefährlich gelten kann, ist die radioaktive Strahlung dort stärker als in anderen bewohnten Gebieten der Welt. Die Ansiedlung dieser Menschen auf der Insel wird äußerst wertvolle Daten zu den Auswirkungen der Radioaktivität auf den Menschen liefern.«
Die Regierung der Marshall-Inseln ist unabhängig, wenn man nicht genauer hinschaut. In mehreren freien Verträgen hat sie ihr Verhältnis zu den USA geregelt. Seit dem 1. Januar 2004 gilt der jüngste dieser Verträge. Abgeschlossen auf Seiten der Marshall-Inseln von jungen Politikern, die die Zeit der Tests nur aus Erzählungen kennen. In diesem Vertrag ist geregelt, dass die USA auf dem Kwajalein-Atoll ihre Raketentests durchführen dürfen und die Marshall-Regierung dafür Geld bekommt. Der Vertrag enthält keinen Satz mehr zu der besonderen Gesundheitsfürsorge für die Test-Opfer.
Zu den wenigen Wissenschaftlern, die nicht resigniert haben, gehört Dr. Rosalie Bertell, langjährige Direktorin des Internationalen Instituts für Volksgesundheit (IICPH) in Toronto. Sie ist Mathematikerin, Ordensschwester bei den Grey Nuns und hat an zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen im Auftrage auch der Regierung der USA, der Atombehörden, von Bürgerorganisationen und Kirchen teilgenommen. Sie hat im Tschernobyljahr 1986 den alternativen Nobelpreis für ihr Buch »Keine akute Gefahr« bekommen. Dieses Buch ist wegen des nachvollziehbar gestalteten Überblicks über die radioaktive Verseuchung der Erde außerordentlich lesenswert. Rosalie Bertell schätzt, dass die Produktion von und die Tests mit Atomwaffen weltweit zwischen 1945 und dem Jahr 2000 10 bis 22 Millionen Todesfälle zur Folge gehabt haben: Todesfälle von Embryonen, Föten, Kleinkindern, Krebsopfer, Kinder mit angeborenen schweren und mit geringeren Missbildungen und genetisch geschädigte Kinder. Die Gegenseite blökt dagegen: Wenn das alles so schrecklich ist, dann zeigt uns doch mal ein paar tote Kinder!
Dr. Alfred Körblein vom Umweltinstitut in München hat sich die Freiheit genommen, den »Mainstream« in Frage zu stellen. Er hat die deutschen Daten zu Totgeburten und Sterblichkeit innerhalb der ersten Lebenswoche und die Daten zum Strontium-90-Fallout offiziell bekommen. Strontium kam in der Natur vor Beginn der Kernenergienutzung nicht vor. In der Zeit der atmosphärischen Atomwaffentests und später nach Tschernobyl war es aber sehr wohl deutlich messbar. Körblein hat sich überlegt, wie das Strontium durch die Nahrung über den Körper der Mutter das ungeborene Leben erreicht hat. Er stützt sich auf Daten aus einem Zeitraum von 1955 bis 1993. Das Ergebnis ist erschreckend: Er schätzt auf Grund seiner Analyse, dass allein in Deutschland infolge der atmosphärischen Atomwaffentests 110.000 Kinder tot geboren wurden oder innerhalb der ersten sieben Lebenstage starben.
Bis heute liegt weltweit ein zäher Nebel über den Daten der Atomwaffentests. Die medizinischen Folgen werden ebenso geheim gehalten wie die technischen Details der Bomben. Das gilt für alle Atomwaffenstaaten gleichermaßen. Publikationen, die die Auswirkung der Tests auf die Gesundheit zum Gegenstand haben und Effekte fanden, sind nur sehr schwer oder gar nicht in den Fachzeitschriften unterzubringen, die dafür zuständig wären. In internationalen Gremien, die den Anspruch erheben, den Stand des Wissens in der Strahlenfrage zu repräsentieren, sitzen bis heute hochrangige Fachleute, deren wissenschaftliches Lebenswerk darin besteht, Daten über Atomwaffentests und kerntechnische Katastrophen geheim zu halten oder die Folgen so gering wie möglich anzugeben. Natürlich wollen die Kernwaffenmächte nicht öffentlich zugestehen, dass sie bereits auf Leichenbergen stehen (das ist keine polemische Übertreibung). Natürlich wollen sie geringe Entschädigungen leisten. Und natürlich wollen sie ihre Kernkraftwerke und die Wiederaufbereitung abgebrannter Kernbrennstoffe nicht aufgeben und sich den Atommüll billig vom Halse schaffen.
Lijon Eknilang ist eine bescheidene, aber hartnäckige Frau. Sie hat immer wieder ihre Stimme gegen die Atomwaffen erhoben. Sie wurde vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) angehört, als er im Auftrag der UN-Generalversammlung über die Frage zu entscheiden hatte »Ist die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen unter irgendeiner Bedingung nach dem Völkerrecht zulässig?« Der IGH hat im Juli 1996 entschieden, »... dass die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts stehen«. Die UN-Generalversammlung hat sich am 10.&
8201;12.&
8201;1996 mit Mehrheit hinter das Votum des IGH gestellt, Gegenstimmen kamen, wie zu erwarten, aus den USA, aus Russland, Großbritannien und Frankreich, aber auch aus Deutschland. Damals regierte die CDU. Rot-Grün hat es bisher nicht für nötig befunden, diese peinliche Position zu korrigieren. Aus Respekt vor couragierten Frauen wie Lijon Eknilang, im Bewusstsein der riesigen Anzahl nicht gezählter Opfer des 4. Weltkrieges, wie Rosalie Bertell die Opfer der Atomwaffentests nennt, haben wir das deutsche Verhältnis zu Atomwaffen gründlich zu ändern.