DER SPIEGEL 6/2002 - 04. Februar 2002
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"Dies ist verwerflich!"Versuchte Spätabtreibung? Totschlag an einem lebensfähigen Fötus? Ein Chefarzt wehrt sich vor dem Görlitzer Landgericht vehement gegen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft. Von Gisela Friedrichsen
Glaubt man der Görlitzer Staatsanwaltschaft - dann ist es eine ganz besonders scheußliche Geschichte. Dann hat nämlich ein bis dato unbescholtener, angesehener und erfahrener Frauenarzt, Rolf Pfeiffer, 64, Chefarzt für Gynäkologie am Kreiskrankenhaus Zittau, am Morgen des 23. April 1999 gegen sämtliche ärztlichen Grundsätze auf hoch kriminelle Weise verstoßen.
Glaubt man der Görlitzer Staatsanwaltschaft, so hat er versucht, ein missgebildetes Kind in der 29. Schwangerschaftswoche ohne Indikation per Kaiserschnitt abzutreiben, und es, weil es wider Erwarten atmete, anschließend erstickt. Er riss es dazu zwei Kollegen, die sich angeblich um Reanimation bemühten, aus den Händen und hielt ihm über mehr als zehn Minuten gezielt Mund und Nase zu. "Um ganz sicher zu gehen, dass das Kind stirbt bzw. tot ist", so die Anklage, "legte er es anschließend in einer Schüssel mit Wasser ab."
Warum tat er das? Glaubt man der Görlitzer Staatsanwaltschaft, so geschah es allein auf Wunsch der 29-jährigen Kindsmutter - ohne Not, ohne aktuelle Veranlassung, einfach so.
Es müsse davon ausgegangen werden, behauptet die Staatsanwaltschaft, dass die Schwangere lediglich nicht bereit war, sich den aus der Geburt eines behinderten Kindes erwachsenden Mehrbelastungen zu stellen und deshalb eine Abtreibung begehrte.
Chefarzt Pfeiffer also ein blinder Erfüllungsgehilfe einer feigen, verwöhnten jungen Frau?
Für Karin Blau (Name geändert) aus Sachsen war es die erste Schwangerschaft. Am 6. Juli 1999, so wurde es errechnet, hätte sie einen Jungen zur Welt bringen sollen, ein Wunschkind. Es sah alles gut aus, das Kind entwickelte sich zeitgerecht.
Im März 1999 jedoch erkrankt die Mutter an einer Harnweginfektion. Eine ambulante Behandlung hilft nichts. Mit vorzeitigen Wehen, Blutungen und einer Nierenbeckenentzündung kommt Blau ins Diakonissenkrankenhaus in Dresden. Dort stellt man bei einer Sonografie eine extreme Verkürzung aller großen Röhrenknochen des Ungeborenen fest. Verdachtsdiagnose: Chondrodystrophie (Zwergenwuchs). Den Eltern wird zu einem Abbruch geraten. Karin Blau ist über den sechsten Monat hinaus.
Die geschockten jungen Eltern wenden sich an die Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Technischen Universität Dresden. Es folgen Untersuchungen über Untersuchungen, Beratungen über Beratungen. Der Verdacht des Diakonissenkrankenhauses bestätigt sich, ja, es deuten sich auch noch beidseitig Klumpfüße an.
Anfang April erklärt man den jungen Eltern anlässlich eines ärztlichen Konsils, ein Schwangerschaftsabbruch komme angesichts des Befundes und des fortgeschrittenen Zeitpunkts in der Dresdner Universitätsklinik nicht in Frage. Aufgabe der Ärzte sei es, werdendes Leben zu erhalten. Im konfessionell ausgerichteten Diakonissenkrankenhaus ist ebenfalls kein Arzt zu einem Abbruch bereit. Man empfiehlt, sich an eine andere Klinik zu wenden, etwa an die Charité in Berlin.
Karin Blau schreibt nun einen Antrag auf Abbruch der Schwangerschaft: Ihr Kind habe Missbildungen an Armen, Beinen und Brustkorb, es könne laut ärztlicher Auskunft wohl niemals laufen. Niemand könne ihr sagen, um welche Krankheit es sich genau handle, wie sich die Missbildungen entwickelten und wie das Leben des Kindes eines Tages aussehen werde. Sie fühle sich allein gelassen von den Ärzten, sie schaffe es körperlich und seelisch nicht mehr. Auch ihr Ehemann sei mit der Situation überfordert.
Berlin, Charité, Abteilung Pränataldiagnostik, die letzte Hoffnung. Das Ergebnis ist noch niederschmetternder: Zwergenwuchs, die Hände des Fötus tatzenförmig verändert, geistige Behinderung. Einer der Herren im weißen Kittel befürwortet einen Abbruch, ein anderer hält das Kind zwar für schwer geschädigt, aber für möglicherweise lebensfähig. Man bedauert. Vielleicht, so der Rat, Amerika. Oder die Niederlande.
Mittlerweile ist Karin Blau in einem völlig desolaten Zustand, sie hat panische Angst, weiß nicht ein noch aus. Als ihre Eltern für ein paar Tage zur Erholung und Besinnung mit ihr ins Zittauer Gebirge fahren wollen, bekommt sie wieder Blutungen. Ihr Vater wendet sich an einen der Familie bekannten Arzt, der im Zittauer Kreiskrankenhaus arbeitet und über den katastrophalen Verlauf der Schwangerschaft im Bild ist. Dieser Arzt begleitet Karin Blau in die Frauenklinik.
Schon die Reise zur Erholung hält die Staatsanwaltschaft für eine Erfindung. Sie unterstellt, die Familie sei gezielt in die Zittauer Klinik gefahren, wo der Bekannte der Eltern die andernorts verweigerte, illegale Spätabtreibung eingefädelt habe.
Gibt es Beweise dafür? Karin Blau, so messerscharf die Staatsanwaltschaft, habe ihre Krankenunterlagen dabeigehabt, sie habe nicht nach einem Nachthemd und Kosmetika verlangt wie sonst Notfallpatienten. Beweis genug für böse Absicht? Man möchte den Staatsanwalt Sebastian Matthieu, 39, schon gern fragen, ob er noch nie gehört habe, dass Schwangere, Risikopatientinnen sowieso, vom sechsten, siebenten Monat an ein Köfferchen, den Mutterpass und ähnliche Unterlagen stets dabeihaben - für alle Fälle.
Blau wird von Chefarzt Pfeiffer untersucht und bekommt ein die Blutung hemmendes Mittel. Er spricht mit dem Ehemann und den Eltern der Patientin. Sie soll auf jeden Fall über Nacht zur Beobachtung bleiben. Eine Überweisung in ein größeres Krankenhaus lehnen die jungen Leute eingedenk des Weges von Pontius zu Pilatus ab.
Vorsorglich, so Pfeiffer, der eine vorzeitige Lösung der Plazenta für möglich hält, habe er eine "Sectio parva" ins OP-Buch für den nächsten Morgen eingetragen, einen kleinen Kaiserschnitt also - für den Fall, dass die Blutungen zunehmen und das Kind abstirbt. Das bedeutet Lebensgefahr für die Mutter.
Wie gesagt: vorsorglich. Denn es sei leichter, sagt Pfeiffer in Kenntnis der Klinikabläufe, einen Eingriff von der Liste der anstehenden Operationen zu streichen als einen zusätzlichen einzuschieben.
Am nächsten Morgen blutet Karin Blau noch stärker. Kindliche Herztöne - trotz mehrfacher Untersuchung: Fehlanzeige. Pfeiffer entschließt sich, die an vierter Stelle eingetragene Patientin als Erste zu operieren. Das Kind hält er nach seiner ärztlichen Erkenntnis für tot.
Görlitz heute. Man fühlt sich zurückversetzt ins Jahr 1988, in den Gerichtssaal von Memmingen, in dem gegen den Gynäkologen Horst Theissen wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs verhandelt wurde. Die beiden Memminger Staatsanwälte, der eine damals 34, der andere 35, wie sie schäumten und tobten, wie sie die Frauen (und deren Männer) niedermachten, die sich an Theissen in ihrer Not gewandt hatten, wie sie höhnten über den Arzt. Und dann der Satz im Plädoyer des so früh verstorbenen Verteidigers Sebastian Cobler: "Wir haben hier gesehen, was herauskommt, wenn Juristen Doktor spielen."
Die Görlitzer Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, Pfeiffer habe das Kind nicht für tot halten, er habe nicht annehmen dürfen, dass es sich bei den Missbildungen des Fötus um zum Tod führende handelte. Er habe eine Sectio parva nur deshalb eingetragen, weil er das Kind mittels der dabei angewandten Narkose habe töten wollen. Und als er dann ein schlaffes, blau-blassfahles Wesen aus dem Mutterleib zog - das nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft nicht tot war, sondern nur benommen -, habe er ein Tuch auf das Gesicht des Kindes gedrückt, angeblich, weil er sich nicht sicher gewesen sei, ob es nicht doch noch zu schreien anfange. Die Beschreibung dessen, was der Arzt noch alles angestellt haben soll, um das Kind endlich zum Sterben zu bringen - es ist zu unmenschlich, bizarr und abwegig, um es in Einzelheiten zu schildern.
Der Angeklagte Pfeiffer wird von dem Medizinrechtler und ehemaligen Präsidenten der Universität Göttingen, Hans-Ludwig Schreiber, und der Berliner Rechtsanwältin Ulrike Zecher verteidigt. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft: "Als Ergebnis dieser Ermittlungen wurde eine Anklageschrift vorgelegt, die ein einseitiger Parteischriftsatz ist, der auf der objektiven Tatseite aus selektiv herausgegriffenen und zusammengebastelten Beweisstücken besteht, die auf der subjektiven Tatseite mit rein spekulativen, erschreckenden Phantasien über die Motivlage und die Tatvorstellung von Herrn Dr. Pfeiffer verknüpft wurden, um sie plausibel erscheinen zu lassen. Entlastende Beweisergebnisse werden unterschlagen. Dies ist verwerflich."
Tatsächlich lassen sich die Handlungen Pfeiffers auch in ganz anderem Licht sehen. Er sagt, er habe den Eingriff bei Karin Blau nicht wegen der Missbildungen des Kindes vorgenommen, sondern wegen des akuten Zustandes der Mutter. Allerdings hielt er nach seinen Erfahrungen den Fötus nicht für überlebensfähig: "dies vor allem wegen des kleinen und gedrungenen Brustkorbs, der eine normale Atemtätigkeit nicht zulässt". Hätten sich die Blutung und die Beschwerden nicht verstärkt, hätte er die Patientin zu einem Spezialisten für Schwangerschaftsabbrüche in fortgeschrittenem Stadium in Hamburg überwiesen.
Pfeiffer bestreitet, das Kind mit einem Tuch erstickt zu haben: "Vielmehr habe ich, wie erforderlich und üblich, ein Bauchtuch benützt, um dem Kind den Mund und das Gesicht abzuwischen und es besser entwickeln zu können." Er bestreitet jede Tötungsabsicht. Die der Mutter verabreichte Narkose sei nicht im Entferntesten geeignet gewesen, die Frucht zu töten. Als er das Kind holte, sei es bereits tot gewesen.
Eine Oberärztin aber und der Chefanästhesist wollen bemerkt haben, was sie als eine Art Seufzeratmung deuteten. Mit einer Baby-Atemmaske versuchten sie kurzzeitig zu beatmen. Der Oberärztin "schien" es, als verfärbe sich das blaugraue Kind nun rosig. Pfeiffer soll, als er das sah, gesagt haben, Reanimation sei "Quatsch", das Kind habe ohnehin keine Chance.
Er soll ihm dann - 10 bis 30 Minuten lang - Mund und Nase zugehalten und schließlich einen Eimer Wasser verlangt haben. Gesehen hat dieses endlos lange angebliche Ersticken zwar niemand. Aber behauptet wird es.
Über den genauen Todeszeitpunkt des Kindes lässt sich streiten. Schon im Mutterleib? Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass es schon dort an Sauerstoffmangel litt und abstarb. Ein molekulargenetisches Gutachten jedenfalls bestätigt Pfeiffers Diagnose: Das Kind litt an einer Hypochondrogenesis, einer genetisch bedingten Skelettmissbildung, die unweigerlich alsbald zum Tod führt - entweder bereits vor der Geburt oder kurz danach.
Welches Rechtsgut hat der erfahrene Chefarzt also verletzt? Es war nicht einer der umstrittenen Fälle von Spätabtreibung. Hätte er die Mutter noch länger einem immer größer werdenden Risiko aussetzen sollen? Will die Staatsanwaltschaft behaupten, man hätte ruhig abwarten können, weil allerhöchste Lebensgefahr noch nicht bestand? Hätten noch mehr qualvolle Tage verstreichen sollen bis zur Geburt eines nicht lebensfähigen Kindes? Hätte man die Frau noch länger schinden sollen?
Im Memminger Theissen-Prozess musste seinerzeit eine Frau Rede und Antwort stehen, der man gesagt hatte, eine weitere Geburt könnte sie das Leben kosten. Einer der Staatsanwälte schrie daraufhin: "Könnte! Könnte!"
Als die angebliche Tat des Chefarztes Pfeiffer ruchbar wurde durch Kollegen, die sich von ihm offenbar übergangen fühlten, hieß es, Pfeiffer habe den verzweifelten Eltern "helfen" wollen. Welch eine Untat.
Am ersten Verhandlungstag verlas der Angeklagte seine Stellungnahme zum Anklagevorwurf. Der Vorsitzende Richter Helmut Renz, Präsident des Görlitzer Landgerichts, bat um ein Exemplar. "Das interessiert sicher auch die Staatsanwaltschaft", sagte er mit einem Seitenblick.