Das Unendliche leuchtet im Endlichen auf. Das wird in der Mystik zur Gewissheit. Wir sind Träger des Unvergänglichen im Vergänglichen und daher mehr als die Form, als die wir herumlaufen.
Im Menschen ist Leben zu einer Dichte herangereift, in der es sich seiner selbst bewusst werden kann.Indem sich Leben in ein Ichbewusstsein entfaltet, erfährt es, dass es in dieser menschlichen Form endlich ist. Alle Religionen sagen uns, dass die Existenz zwischen Geburt und Tod nur eine Phase unseres Gesamtlebens ist. Wir stehen in einem Evolutionsprozess, der zu einer Erfahrung unserer endgültigen, letzten Wesenheit führen soll.
Die Spanne zwischen Geburt und Tod ist uns gegeben zum Wachsen und Reifen. Wer reifen will, darf nicht festhalten. Alles, was wir festhalten, wird zu Gift. Wenn wir die Luft festhalten, ersticken wir. Wenn wir die Nahrung festhalten, vergiftet sie uns. Aufnehmen und Ausscheiden gehören zum Strukturprinzip dieser Welt. Sterben ist genauso der Vollzug des Wachsens und Reifens wie Geborenwerden. Unser Ich sträubt sich gegen den Prozess des Werdens und Vergehens. Es will nicht glauben, dass Sterben Tor zu Neuem ist. Wir haben aber zu lernen, dass dieses unser Leben nur ein Akt innerhalb eines Schauspiels ist. Es gehen Akte voraus, und es folgen Akte nach. Unser Ich neigt dazu, das Welttheater anzuhalten.
Das freilich gehört zur Ursünde, dass wir meinen, dieses kleine Ich verewigen zu können. Der »Erleuchtete« ist einer der den Strom des Lebens erfährt. Aber er erfährt ihn als Hier und Jetzt.Der Mystiker ist daher ein weltzugewandter Mensch. Am deutlichsten kommt das in den so genannten Ochsenbildern des Zen zum Ausdruck. Das letzte Bild zeigt den Erleuchteten auf dem Markt. Er kauft und verkauft, lacht und redet und ist als Mystiker nicht erkennbar. Er hat seine Erleuchtung vergessen. Er lebt aus einer gewandelter Persönlichkeit.Wer zum Strom des Lebens durchstößt erfährt das ewige Jetzt. Das Leben bekomm von dorther gesehen eine andere Wertigkeit. Der Mystiker will gar nicht in erster Linie die Welt ändern.
Vielmehr ändert sich durch seine Erfahrung seine Einstellung zur Welt und zu den Dingen. Die Projektionen, denen der Durchschnittsmensch ständig verfällt, verschwinden. Welt und Dinge werden erfahren als das, was sie wirklich sind. Es geht also nie um Vernichtung oder Abtötung. Was vernichtet wird, ist das »Scheinsein« der Dinge, die von der Egozentrik des Menschen falsch eingeschätzt und bewertet werden.
Unser Ichbewusstsein ist nur ein Organ unseres Gesamtbewusstseins, gebärdet sich aber als Alleinherrscher und liegt in ständigem Kampf mit der Tiefe unseres Seins. Solange es die Oberhand behält, gibt es keinen Frieden. Nur wenn wir ins Transpersonale vorstoßen, in jene umfassendere Dimension unseres Bewusstseins, werden wir mit den Problemen dieser Welt soweit fertig werden, dass wir menschenwürdig leben können. Es kommt darauf an, ob unser Ich sich einordnen lässt als Organ unserer Gesamtpersönlichkeit oder ob es uns triumphierend überall hinzerren darf Es ist nur der Hausmeister, aber nicht der Hausbesitzer.
Dieses Leben ist uns gegeben, dass wir uns wandeln. Wer sich wandeln will, muss lernen loszulassen; nur so wird er transformationsfähig. Wer davon überzeugt ist, bekommt eine andere Einstellung zum Leben, zur Umwelt und Gesellschaft. Er wird sich als Gast aller Dinge erfreuen, ohne sie besitzen oder beherrschen zu wollen. Er hat den Mut zum einfachen Leben, weil Leben in den einfachen Dingen viel stärker zu spüren ist. Er erkennt dass es nicht um die Quantität geht, sondern um die Qualität. Damit sind wir wieder beim Bewusstseinswandel, ohne den es keine Wandlung des Menschen und der Gesellschaft gibt.
Wer wirklich durchbricht zur letzten Erfahrung, bleibt nicht in einem Wolkenkuckucksheim hängen, auch nicht in einer Ekstase. Er kommt immer im jeweiligen Augenblick an. Die wahre Erfahrung ist Erfahrung der Fülle im Augenblick. Ich möchte das mit der folgenden Geschichte verdeutlichen:
Ein Mann hackte Unterholz am Waldrand ab, verkaufte es und lebte vom bescheidenen Erlös. Eines Tages kam ein Einsiedler aus dem Wald, und der Mann fragte ihn um einen Rat für sein Leben. Der Einsiedler riet ihm: »Geh tiefer in den Wald!« Der Mann ging daraufhin tiefer in den Wald und fand wunderbare Bäume, die er als Bauholz verkaufte. Reich geworden, erinnerte er sich plötzlich wieder an den Rat des Einsiedlers: »Geh tiefer in den Wald!« Und so ging er tiefer in den Wald und fand eine Silbergrube. Er baute sie ab und wurde noch wohlhabender. Eines Tages fiel ihm wieder der Einsiedler ein:» Geh tiefer in den Wald!« Und so wagte er es, weiter vorzudringen in das Dunkel des gehnistvollen Waldes. Bald fand er wunderbare Edelsteine. Er nahm sie in die Hand und erfreute sich an ihrem Glanz, aber dann fiel ihm das Wort des Einsiedlers ein: »Geh tiefer in den Wald!« Die Edelsteine in der Hand, wanderte er weiter Und plötzlich stand er beim Morgengrauen wieder am Waldrand. Er nahm seine Axt und hackte das Unterholz ab und verkaufte es an seine Mitmenschen.
Von da aus verstehen wir auch Texte aus dem Thomasevangelium: »Spaltet ein Stück Holz, und ich bin da. Hebt einen Stein, und ihr findet mich dort. «Wenn einer den Weg nach innen beschreitet, wird ihm sehr rasch der Vorwurf gemacht er denke nur an sich selbst, es mangle ihm an sozialer Verantwortung. Das kann sein, aber dann ist der Betreffende sicher nicht auf dem rechten Weg.
Die mystische Erfahrung durchbricht die Schranke des Ich und der Selbstgenügsamkeit. Erfahrung des gemeinsamen Lebens, das alles durchpulst, lässt Leid und Freude des anderen als eigenes Leid und eigene Freude erfahren. Der Egoismus, das Hauptlaster der Menschen, ist überwunden.
So sagt Meister Eckhart: »Hast du einen Menschen lieber als einen andern, so ist das unrecht. Und hast du deinen Vater und deine Mutter und dich selbst lieber als einen andern Menschen, so ist das unrecht. Und hast du die Seligkeit in dir lieber als in einem andern, so ist das unrecht.«Am deutlichsten tritt die Einstellung der Mystik jedoch in der eigenwilligen Auslegung Eckharts zu Maria und Martha zutage. Nicht Maria, die in Verzückung zu Füßen Jesu sitzt, ist das Ideal, sondern Martha, die sich abrackert und bedient. Eines der großen Missverständnisse des Abendlandes in Bezug auf Mystik ist die falsche Auffassung, dass Ekstase der Höhepunkt der mystischen Erfahrung sei. Ekstase ist nur eine Nebenwirkung. Ziel ist die Erfahrung des Göttlichen in jeder Form, in jeder Bewegung, Aufgabe und Arbeit. Maria ist daher noch nicht am Ziel. Sie muss erst noch »Martha« werden.
Für die Mystik sind Maria und Martha keine Gegensätze, sie sind vielmehr die beiden Aspekte der einen Wirklichkeit. Kontemplation und Aktion gehören zusammen wie Potenz und Akt. Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag und zum Mitmenschen führt, ist ein Irrweg. Das gilt von der Mystik aller Religionen.
Das wichtigste Gelübde, das in jedem Zentempel täglich wiederholt gebetet wird, ist das BodhisattvaGelübde: »Die Lebewesen sind zahllos, ich gelobe, sie alle zu retten.« Mitleiden mit allen Lebewesen ist die Grundtugend des Buddhismus. Wer das gemeinsame Leben, das alles durchpulst, erfährt, der erfährt Leid und Freude des anderen als eigenes Leid und eigene Freude. Und wir Christen sagen: »Wer nicht liebt, kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe« (1 Joh 4).
Darum ist der »wahre« Mystiker nicht der Einsiedler, der auf die schnöde Welt herabschaut. Es geht um das Erfassen Gottes in den Dingen dieser Welt.
Eckhart sagt dazu: »Das kann man nicht durch Fliehen lernen, indem man vor den Dingen flüchtet und sich äußerlich in die Einsamkeit kehrt; der Mensch muss vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er auch sei. Er muss lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen.«Der Mystik aller Religionen geht es um einen Persönlichkeitswandel. Der Mensch soll erfahren, wer er wirklich ist. Er ist mehr als Körper und Ichbewusstsein. Die mystischen Wege wollen in eine Selbsterfahrung des ganzen Menschen führen, also auch seiner transpersonalen Existenz. Hier aber scheiden sich die Geister seit eh und je. Wer diese andere Ebene als irrational oder gar als psychopathologisch ablehnt, der klammert eine Hälfte der menschlichen Persönlichkeit bewusst aus. Er negiert damit die eigentlichen Kräfte, die einen Bewusstseinswandel im Menschen hervorbringen und ihm helfen könnten, seine Zeitprobleme zu bewältigen. Bewusstseinswandel stand am Anfang einer jeden neuen Epoche. Genau das ist das Ziel der mystischen Wege. Sie besitzen eine starke gesellschaftspolitische Relevanz.
Wir sind im Allgemeinen geneigt, unsere Probleme nach dem Grundsatz der Christlichen Arbeiterjugend zu lösen: »Sehen, urteilen, handeln«. Das ist recht und gut. Wir erkennen eine Sache als falsch und ändern sie mit guten Vorsätzen und Taten. Die Mystik hat einen anderen Weg. Sie versucht, den Menschen von innen zu wandeln. Die Erfahrung der transpersonalen Ebene lässt ihn die tieferen Zusammenhänge menschlichen Lebens erkennen. Sie wandelt den Kern der Persönlichkeit. Aus dem gewandelten Menschen kommen dann neue Verhaltensweisen, Wertungen und Intentionen. Die Ethik dieser gewandelten Persönlichkeit erweist sich als viel tragfähiger als willentliche Vorsätze, mit denen, wie wir sagen, oft die Straße zur Hölle gepflastert ist.
Der Mystiker ist allerdings der Letzte, der sich Illusionen hingibt. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer und langwierig der Weg zum Persönlichkeitswandel ist. Daher ist er offen für jede Form der Zusammenarbeit, um die Probleme unserer Gesellschaft zu lösen.
Quelle: Leicht gekürzt, aus: Willigis Jäger: Wiederkehr der Mystik. Das Ewige im Jetzt erfahren, Herder spektrum, Freiburg 2004, erhältlich im Bücherdienst, Bestell-Nr. 5885