Hallo,ich will, dass aus dem Tod meiner kleinen Tochter Gutes wächst.
Jule starb durch den tragischen Fehler einer Notärztin:
Du hättest leben können - Stefanie Bachstein
1. Auflage Januar 2002
Verlagsgruppe Lübbe - Taschenbuch Band 61480 - kartoniert - 269 Seiten
ISBN 3-404-61480-1
Preis 7,45 &
8364;Vorstellung eines Rezensionsexemplares
von Dr. med. W. Oertel &
8211; Redaktion Deutsches Medizin ForumEs gibt - neben der einschlägigen Studien- und Fachliteratur - einige Bücher, die jeder gelesen habe sollte, der mit Patienten und deren Angehörigen zu tun hat.
Dazu gehören u.a. von Miller "Das Drama des begabten Kindes", von Kübler-Ross "Interviews mit Sterbenden", sowie "Kinder und Tod" und von Schmidbauer "Helfersyndrom und Burnout" sowie "Hiflose Helfer".
Das vorliegende Buch von Stefanie Bachstein gehört ebenfalls in diesen Rahmen; eine Pflichtlektüre für Medizinstudenten, Pflegeberufler, Ärzte, Rechtsanwälte, Verwaltungsleiter in Krankenhäusern und Entscheidungsträger bei den Versicherungsgesellschaften.
Dieser Tatsachenbericht ist so gut geschrieben, dass er erfunden sein könnte, wäre da nicht die letzte Authentizität, die allein aus der Realität, dem Erlebten und dem Durchlittenen, erwachsen kann - und die macht den Leser betroffen.
Ein sehr einfühlsames Vorwort von Professor Dr. med. Thomas H. Loew, Uniklinik Regensburg, ein biografischer und autobiografisch unterlegter Tatsachenbericht in 34 Kapiteln, Nachworte und ein Schlusswort, eine sorgfältig zusammengetragene Literaturauswahl und eine Übersicht über Vereine, Verbände und Selbsthilfegruppen, zum Teil mit Internetadressen.
Im April 1997 wird ein siebenjähriges Mädchen, auf dem Weg zu einer Vorortschule, von einem Auto erfaßt und am Kopf verletzt. Der Rettungsdienst wird zum Unfallort gerufen, wenig später trifft auch die diensthabende Notärztin ein. Sie entschließt sich, das Kind zu intubieren und künstlich zu beatmen. Als die Eltern eine gute Stunde später in der Unfallklinik der nächsten Großstadt ankommen, ist ihre Tochter bereits tot.
Bis dahin - leider - ein Vorfall, wie er sich tagtäglich auf unseren Straßen ereignet, ein weiterer Prozentpunkt in der Verkehrsopferstatistik und ein grausames Schicksal für die Angehörigen - aber kein zwingender Anlaß, ein knapp 280 Seiten umfassendes Taschenbuch darüber zu schreiben.
Wäre da nicht die unerwartete und niederschmetternde Auskunft durch den Klinikarzt, der den Eltern mitteilt, dass ihr Kind durch eine Fehlintubation zu Tode gekommen ist, also durch einen Kunstfehler, den die zuerst behandelnde Notärztin zu verantworten hat, wie der Leser im vierten Kapitel nach gut 30 Textseiten erfährt.
Später heißt es dann:
"Meine Tochter war doch bereits tot, ob nun durch den Unfall oder den Arztfehler ... Für mich machte es jedoch einen großen Unterschied, ob es einen 'Schuldigen' gab oder nicht. Tot ist zwar tot, aber Tod ist nicht gleich Tod. So habe ich das empfunden."
Ein glänzend formulierter Krimi, könnte man meinen, spannend und fachkundig inszeniert - ein einziger Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Seite. Keine sprachlichen Längen, sondern eine faszinierende und erschütternde Tatsachenschilderung, die nicht nur das allgegenwärtige Bedürfnis der Leserkreise befriedigt, die ihr medizinisches Verständnis jeden Tag am Fernseher vor allem aus zahllosen Praxis-, Krankenhaus- und Rettungsdienst-Soaps herleiten.
Also doch nur ein Druckerzeugnis, das zwischen Arztroman, Krimi und Thriller angesiedelt ist?
Nein, so leichte Kost wollen uns Autorin und Verlag nicht bieten, schon im Impressum ist der entscheidende Hinweis zu finden: "Dies ist ein authentischer Bericht, in dem Namen und Ortsangaben verändert wurden, um die zu schützen, deren Leben es betrifft."
Und so sind es weder Hass noch Rachsucht, die die Verfasserin veranlaßt haben, all das niederzuschreiben, was sie seither mit Ärzten, Juristen, Krankenhausverantwortlichen, Politikern und Versicherungsgesellschaften erlebt hat.
"Der Tod von Jule", so heißt das verstorbene Mädchen in der Schilderung, "muss einen Sinn haben, damit daraus Gutes wächst."
Die Mutter, die es sich zumutet, die bedrückenden Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Tochter und in der Zeit danach - auch mit Hilfe der Familie und des Freundeskreises - aufzuarbeiten, will das Leben der Beteiligten und Schuldigen nicht vernichten, sondern sich selbst und anderen helfen, mit dem Herzen zu sehen.
So haben wir Teil an dem Leid einer fünfköpfigen Familie, die "plötzlich und unerwartet" das jüngste Kind verliert und sich nun darum bemüht, ihr individuelles Lebensmobile wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Was uns die Autorin im weiteren Verlauf mitteilt, ist bittere Realität für viele Patienten und Angehörige die in irgendeiner Weise von ärztlichen Kunst- oder Behandlungsfehlern betroffen sind, immerhin geschätzte rund 100.000 Menschen jedes Jahr, wobei eine erheblich höhere Dunkelziffer angenommen werden muß.
Verschweigen, vertuschen, bagatellisieren, bevormunden und übervorteilen, moralisch unter Druck setzen und äußerstenfalls auch das Manipulieren von Menschen und Akten sind immer noch bewährte Mittel, um Patienten mit berechtigten Ansprüchen nach Kunst-, Behandlungs- oder Pflegefehlern in sozialverträglicher Weise und kostenneutral abzubügeln - ohne Gespür für menschliches Leid und deshalb schlicht menschenverachtend; daran ist auch unsere Gesetzgebung nicht unbeteiligt, solange Sachschäden immer noch höher bewertet werden, als Schäden an Körper und Seele.
Unser Medizinsystem wird einmal mehr als geschlossene Gesellschaft entlarvt, in der geschädigte Patienten und deren Angehörige überwiegend einem undurchdringlichen Interessennetzwerk von Ärzteschaft, Juristen, Politikern und Versicherern ausgeliefert sind und in dem das ursprüngliche Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient aus finanziellen Erwägungen keinen Platz mehr findet.
Es ist beachtlich, dass die Autorin schließlich sogar mitmenschliches Verständnis für die Notärztin aufbringt, sobald auch diese als Opfer in dem oben beschriebenen System transparent wird.
Stefanie Bachstein lamentiert nicht und zerfließt auch nicht vor Selbstmitleid; sie leistet mit ihrem Buch konstruktive Trauerarbeit, gibt Hilfe zur Selbsthilfe und weist auf schwerwiegende Probleme im Umgang mit Behandlungsfehlern hin.
Danke!
Mit sehr freundlichen Grüssen
Stefanie Bachstein
Das Vorwort und weitere Infos unter:
www.stefanie-bachstein.de