Was Tiere denken
von Uta HenschelEs mehren sich Beweise, dass Tiere ein ebenso bewegtes Innenleben haben wie wir Menschen. Die neue Disziplin "Verhaltensforschung des Denkens" geht davon aus, dass Tiere genau wissen, was sie wollen und was nicht.
Bis heute geizen Wissenschaftler mit Anerkennung, wenn es um tierisches Denken geht - und beugen sich damit unter eine Deutung der Welt, die weit zurueckreicht: auf die Ueberzeugung, dass einzig der Mensch, Krone der Schoepfung und Herr ueber die Tiere, mit geistigen Gaben ausgestattet ist.
Nur Menschen, so der Philosoph René Descartes 1637, koennen ueberhaupt der eigenen Existenz gewiss sein, weil sie sich selbst wahrnehmen, ueber sich selbst nachdenken und "ich" zu sagen imstande
sind. Tiere hielt der Gelehrte fuer Automaten, fuer Schlafwandler des Lebens, ohne Bewusstsein ihrer selbst. Erst Charles Darwins These, dass gemeinsame Vorfahren uns Menschen mit den Tieren verbinden, erschuetterte das cartesianische Weltbild.
Dennoch loest sich die Wissenschaft nur schwer von der alten Zweiteilung in bewusstes und nicht-bewusstes Leben. Sie behandelt das Tier nach wie vor als Sache und verhindert so, dass artgemaesse Haltungsbedingungen durchgesetzt werden koennen.
Wir blenden beharrlich einen wichtigen Teil der Darwinschen Evolutionstheorie aus, konstatiert der Wissenschaftstheoretiker Daniel C. Dennett in seinem Buch "Darwins gefaehrliches Erbe".
Der Gedanke, dass auch der menschliche Verstand ein Ergebnis der natuerlichen Selektion sei, wirke auf viele Menschen zu revolutionaer - bis heute.
Fuer Darwin war der Unterschied zwischen unserem geistigen Potential und dem der animalischen Sippschaft "nicht grundsaetzlicher, sondern nur gradueller Natur. Sensibilitaet und Intuition, Gefuehle und Gaben wie Liebe, Gedaechtnis, Aufmerksamkeit, Neugier, Nachahmung, Vernunft, deren der Mensch sich ruehmt, finden sich auch in niederen Tieren".
Wissenschaftler haben historische Gruende dafuer, Beispielen tierischer Intelligenz zu misstrauen. Schuld daran ist das Pferd Hans. Um die Jahrhundertwende nahm der Vierbeiner Europas Gelehrte im
Sturm: Hans konnte einwandfrei buchstabieren, zaehlen, sogar Wurzeln ziehen. Und zwar nicht nur, wenn sein Besitzer, ein deutscher Mathematiklehrer, die Fragen stellte. Auch fremden Forschern gab Hans Auskunft. Das Pferd klopfte seine durchweg richtigen Antworten mit dem Huf auf ein niedriges Pult oder nickte mit dem Kopf. Hans sei ein Genie, war das einmuetige Urteil der wissenschaftlichen
Gemeinschaft.
Bald darauf stand sie vor aller Welt blamiert da. Ein Psychologe offenbarte das eigentliche Talent des Rosses: Nicht dessen ueberragender Pferdeverstand, sondern eine ans Wunderbare grenzende
Beobachtungsgabe hatten ihm verraten, wie oft er mit dem Huf pochen sollte. Das Pferd nahm feinste, den Fragern unbewusste Reaktionen wahr, Kopfnicken etwa, angehaltenes Atmen oder auch nur die
nachlassende Anspannung der Zuschauer, wenn es beim richtigen Klopfzeichen angelangt war. Sobald Hans sein Gegenueber nicht sehen konnte oder wenn derjenige, der ihn befragte, selbst die richtige
Antwort nicht kannte, versagte das Pferd.
Fortan stand fuer die getaeuschten Wissenschaftler fest, dass Tiere eben doch nicht denken koennen. Und wenn es so aussehe, reagierten sie lediglich auf Hinweise ihrer Umgebung.
In der Forschung ist diese Aufmerksamkeit, die viele Tiere zu ueberlegenen Verhaltensbeobachtern macht, seitdem als "Kluger-Hans-Effekt" gefuerchtet, als Gefahr, dass Experimentatoren ihren Versuchstieren unbewusst etwas mitteilen und damit die Ergebnisse verfaelschen. Daher tragen Forscher in den entscheidenden Phasen ihrer Versuche grosse dunkle Brillen und Mundschutz. Sie verstecken sich, wenden sich ab, sprechen ueber Mikrophone, arbeiten mit uneingeweihten
Helfern, zeichnen Ablaeufe auf Videokassetten auf, um sie spaeter stundenlang, Szene um Szene, auf verdaechtige Anzeichen zu ueberpruefen.
Trotzdem gab es immer Forscher, die davon ueberzeugt waren, dass Tiere Gebrauch von ihrem Gehirn machen und die herausfinden wollten, wie dies geschieht. Sprachversuche mit Primaten, der Wunsch, mit Tieren zu reden, bildeten den Anfang dieser Schule.
Über kein anderes Lebewesen staunen wir Menschen so sehr wie ueber die Schimpansen. Der Ausdruck in ihren Augen, ihre Haende, ihre Haltung erinnern uns daran, dass sie beinahe unseresgleichen sind.
Nur die Menschensprache fehlt ihnen. Unsere Vorstellung von Geist aber ist eng mit Sprache verquickt, unsere Gedanken begleitet ein ununterbrochener Strom stummer Worte, ein innerer Monolog. Es liegt also nahe, die Frage, ob es denn Denken ohne Worte gibt, zuerst bei Primaten zu klaeren.
Der Gorilla Koko und die Schimpansin Washoe hatten die Gestensprache der amerikanischen Taubstummen gelernt. Ihre stummen "Aussprueche" machten bald zu Herzen gehende Schlagzeilen: Koko sehnte sich nach einem "Baby" und erhielt ein grau getigertes Kaetzchen. Washoe, die bis zu ihrem fuenften Lebensjahr nie einen Schimpansen gesehen hatte und sich fuer einen Menschen hielt, beschrieb ihre
wirklichen Artgenossen nach einer ersten erschuetternden Begegnung angewidert als "schwarze Kaefer".
Aber die Skeptiker taten solche Ergebnisse der Kommunikation unter Primaten als Kuriositaet ab. Sie hielten die Tiere fuer "konditioniert", also darauf trainiert, die gewuenschten Reaktionen
zu zeigen. Oder, noch schlimmer: fuer "kluge" Primaten, die wie der gefuerchtete Hans auf unbewusste Zeichen ihrer Ausbilder eingingen. Zweimaliges Schlagen auf den Schenkel akzeptierten die Kritiker nicht als Begriff fuer "Hund", und wenn ein Schimpanse sein Ohr beruehre, jucke es ihn wahrscheinlich. Mit dem Wort "horch" habe das jedoch gar nichts zu tun.
Eine Maschine, ein Computer mit Keyboard, offenbarte schliesslich auch den Zweiflern, dass Primaten tatsaechlich unsere Sprache "verstehen". Der Psychologe Duane Rumbaugh entwickelte eine Tastatur
mit geometrischen Symbolen, sogenannten Lexigrammen, die wie Woerter eine bestimmte Bedeutung haben. Die Schimpansin Lana lernte das Keyboard beherrschen und mit ihren neuen Vokabeln Saetze tippen. War
ihre Syntax okay, bekam sie zur Belohnung aus einem vom Computer gesteuerten Automaten, worum sie bat: "Bitte Maschine, Banane."
Fehlte auf der Tastatur das betreffende Zeichen, improvisierte sie "gruene Banane" fuer Gurke.
Alle ihre Versuche, Erfolge wie Fehlschlaege, klickten als kalte Daten in den Speicher des Computers. Der lieferte Beweise, an denen es nichts mehr zu deuteln gab: Lana verstand, dass abstrakte Zeichen etwas bedeuten, und setzte sie sinnvoll ein. Die Schimpansin bewirkte
das erste Tauwetter an der eisigen Kritikerfront.
Weltweit kluegeln Biologen und Psychologen immer raffiniertere Tests aus, um unter Laborbedingungen zu verfolgen, was in den Koepfen von Tieren vorgeht, wenn sie Probleme loesen.
Delphine im Meeressaeuger-Labor von Kewalo Basin auf Hawaii suchen auf Befehl ihres Trainers nach bestimmten Objekten. Fehlt eines unter den schwimmenden Gegenstaenden im Pool, druecken sie das Nein-Paddel nieder. Die Delphine beherrschen ein Vokabular von 50 Begriffen und verstehen Saetze mit bis zu fuenf Woertern. Dabei unterscheiden sie zwischen "Hol den Frisbee und bring ihn zum Surfboard!" und "Hol das Surfboard und bring es zum Frisbee!" - verstehen demnach sogar etwas
von Syntax.
Mit ueber 1000 Befehlen, immer neuen Kombinationen aus dem Wortschatz der Meeressaeuger verlangt ihr Trainer fortwaehrende Flexibilitaet von seinen Delphinen: "Intelligenz", sagt der Tierpsychologe Herman, "ist die Faehigkeit, sich immer wieder auf neue Situationen einzustellen."
Die besitzt der Graupapagei Alex allemal. Und noch mehr: Er kann, was saemtliche andere tierischen Wunderkinder der Labors nicht schaffen: Er unterhaelt sich mit seiner Trainerin in deren Sprache. Auch den Mittelwesten-Akzent hat er in 18 Jahren Spracharbeit aufgeschnappt. Fuer Papageien nichts Ungewoehnliches, koennte man meinen.
Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Alex versteht, was er sagt. Er hat nicht nachplappern gelernt, sondern er hat zugehoert.
Die Diskussion ueber derartige Ergebnisse hat die wissenschaftliche Gemeinschaft gespalten. Eine Fraktion zieht seither hinaus ins Feld. Sie hat sich von den Denksportaufgaben der Labors abgewendet, in denen Tiere zu unseren Bedingungen, nach den Codes unserer menschlichen Logik befragt werden - nur, damit wir verstehen, welches geistige Potential in ihnen steckt. Diese neue Generation von Feldforschern studiert animalisches Bewusstsein dort, wo es sich entwickelt hat, weil es fuers Überleben nuetzlich ist: in der Natur.
Meist brauchen sie Jahre, um die "Sprachen" von Saeugern, Reptilien, Insekten, Voegeln zu verstehen: die Mitteilungen aus Bildern, Geruechen, Lauten, mit denen in den tierischen Welten kommuniziert
wird. Die Forscher beobachten, was ein Tier bemerkt, was es ignoriert und wie es auf Überraschungen reagiert. Sie registrieren, wie Tiere planen und tricksen, um etwas zu erreichen, und wie sie Krisen
managen. Vor allem aber verstossen diese Wissenschaftler systematisch gegen das Verbot der "Anthropomorphisierung", der Vermenschlichung.
Sie erklaeren es im Gegenteil sogar fuer "gesunden Menschenverstand", sich wie jeder Hunde- oder Katzenbesitzer in die betreffende Art hineinzuversetzen, deren Denkprozesse ein Forscher verstehen moechte. Dies sei eine exzellente Methode, um herauszufinden, "wie nichtmenschliche Tiere ihr Dasein subjektiv erleben".
Bewusstsein, argumentiert Donald R. Griffin, sei keine Sonderentwicklung der Evolution, kein Extra, das nur wir Menschen oder nur ganz bestimmte Arten besaessen. "Bewusstes Denken ist, was Gehirne tun - auch tierische Gehirne."_ Also ist es sinnvoll, das eigene Bewusstsein einzusetzen, um fremde Bewusstseinsformen zu erkunden. So wie wir uns in einen anderen Menschen hineindenken oder
hineinfuehlen, um ihn zu verstehen.
Griffin, als Entdecker der Echo-Ortung von Fledermaeusen ein Wissenschaftler von untadeligem Ruf, heute ueber 70 Jahre alt und Emeritus der Rockefeller University, ist der Protagonist der neuen
Anthropomorphie-Schule. Seit 20 Jahren hat er mit seinen Buechern und Veroeffentlichungen die Frage nach Bewusstsein und Denkfaehigkeit von Tieren wachgehalten. "Tiere wollen das eine und fuerchten das andere. Und sie erwarten, dass bestimmte Verhaltensweisen zu vorhersehbaren Ergebnissen fuehren."
Seinem unermuedlichem Kreuzzug fuer das tierische Bewusstsein ist es zu verdanken, dass heute eine neue Disziplin heranwaechst: die Kognitive Ethologie, die Verhaltensforschung des Denkens.
"Epiphanien" des Bewusstseins nennt Griffin, was seine Schueler entdecken und dann in zahllosen kontrollierten Tests wissenschaftlich wasserdicht gemacht haben. Zum Beispiel koedern Reiher in
verschiedenen Landschaften der Erde nach einem aehnlichen Prinzip ihre Beute: Sie lassen Brotstuecke, Insekten oder von ihnen in Stuecke gebrochene kleine Zweige behutsam auf der Oberflaeche eines Gewaessers schwimmen. Dann warten sie ab, bis solch Anglertrick einen
=46isch anlockt. "Ist es wirklich vernuenftig, anzunehmen", fragt Griffin, "dass der Reiher dieses Verhalten erfolgreich anwendet, ohne darueber nachzudenken, was er tut? Und ohne sich auch nur einen
Augenblick lang zu ueberlegen, was er zu fangen hofft?"
Huftiere der afrikanischen Savanne nutzen ein komplexes System von Signalen, um sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen. So "lesen" zum Beispiel einige Pflanzenfresser aus der Haltung und
Bewegung eines zur Jagd aufbrechenden Loewenrudels, ob heute ein Zebra-Tag oder Gnu-Tag oder Bueffel-Tag ist, und entschliessen sich entweder zur Flucht oder weiden gelassen weiter.
Meerkatzen beherrschen ein differenziertes Repertoire von Warnrufen. Diese geselligen Affen leben ebenfalls in der afrikanischen Savanne und kennen fuer ihre drei Hauptfeinde Leopard, Adler und Python drei unterschiedliche "Worte" - und, wie die Forscher Dorothy L. Cheney und Robert M. Seyfarth mit Tonband-Replays herausfanden, auch drei Fluchtstrategien: Gibt ein Tier Leoparden-Alarm, dann fliehen die Meerkatzen in die duennen Spitzen der Äste. Bei Adler-Alarm
verstecken sie sich am Boden im dichten Gebuesch. Bei Python-Warnungen richten sie sich auf und blicken umher. In den intelligenten Fluchten der Affen spiegeln sich somit die unterschiedlichen Jagdstrategien ihrer Raeuber.
Bei Primaten gilt der Gebrauch von Werkzeugen als Zeichen hoher geistiger Entwicklung, vielleicht sogar einer Kultur. Wir bewundern, dass Schimpansen schwere Steine aus 50 Meter Entfernung zum
Nuesseknacken herbeitragen.
Aber warum glauben wir dann nicht, dass ein Termitenwolf, ein Insekt, sich absichtlich mit toten Termiten tarnt, um unerkannt im Bau Beute zu machen?
Bilder und Originaltext unter
http://www.geo.de