Der Humanist: Der Menschheit verpflichtet

Navigationsleiste

Genozid in Ost-Timor

 16. September 1999 · Religion: Die missbrauchten Kinder

Im Kreis Coburg bescherte Weihnachten 1998 ein Gottesdienstbesucher dem Pfarrer einen Erlebnisgottesdienst der besonderen Art. Aber der Geistliche war davon nicht sehr erbaut: Er zeigte den Besucher wegen Störung der Religionsausübung an. Was war geschehen? Der Vater eines 9-jährigen Kindes beschuldigte den katholischen Priester noch vor Beginn der heiligen Messe, seinen Sohn mehrmals missbraucht zu haben. Auch andere Familien sagten daraufhin aus, der Geistliche habe ihre Kinder des öfteren auf dem Nachhauseweg vom Gottesdienst belästigt. Der Pfarrer hatte sie netterweise nach Hause gefahren.

Nun hat der Staatsanwalt Anklage wegen sexuellen Missbrauchs erhoben. 13 Fälle werden dem 58-Jährigen vorgeworfen. Die Kirche hat den Mann vom Religionsunterricht freigestellt. Er war übrigens bereits 1987 wegen eines ähnlichen Falles zu einer Geldbuße verurteilt worden. Der Pfarrer seinerseits zeigte nicht nur den betroffenen Vater, sondern auch einen Beamten aus dem Landratsamt an: Da hatte doch jemand des Priesters Geheimnisse ausgeplaudert ... [1]

Nun könnte man hier noch - mal wieder - von einem "Einzelfall" reden, der überall vorkommt. Oder ist es doch ein kirchenimmanentes Problem, hervorgerufen durch Zwang zur Keuschheit? Die jahrzehntelange Erfahrung mit bischöflichen Verdrängungsmechanismen lässt befürchten, wieder einmal werde von Hirt und Herde eingewandt, in jeder größeren Organisation gebe es schwarze Schafe, Fehlleistungen, Sünden. Also auch im Kirchenfürstentum. Müssen es aber gleich so viele, grauenvolle, strukturell bedingte, über alle Jahrhunderte nachgewiesene sein? Steht nicht auch für die Catholica geschrieben: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen"? [2]

Ein Dokumentarfilm über die 50er Jahre hat dieses Jahr Irland aufgerüttelt, er bereitet der Mär vom "Einzelfall" ein Ende. Ein Skandal erschüttert die katholische Kirche, die "Säule" der irischen Gesellschaft. Jahrelang hat der Staat einem katholischen Orden Kinder aus sogenannten "sozial schwachen" Familien anvertraut, um sie zu erziehen und ihnen Gottesfurcht beizubringen. Aber statt Fürsorge erhielten sie Gewalt, statt Liebe Missbrauch. Hier ist nicht mehr die Rede von einzelnen, nein, hunderte von Kindern haben in der Obhut der Kirche die Hölle auf Erden erlebt. Und Kirche, Orden und Staat haben ein Kartell des Schweigens aufgebaut.

Eines der Opfer, der 54-jährige John Prior, kämpft für Gerechtigkeit. Als Dreijähriger holte ihn der Staat aus seiner Familie heraus und steckte ihn in ein katholisches Erziehungsheim des Ordens der "Christian Brothers". John hatte fortan keinen Namen mehr und keine Rechte: Er heißt 892 Prior. Prior klagt an: "Die schlimmsten Prügel, die ich je erhalten habe, war, als ich einer Krankenschwester erzählt habe, dass ich von einem Bruder sexuell missbraucht wurde. Ich war 9 oder 10. Sie hat mich erst geschlagen, es dann dem Bruder erzählt. Der hat mich weggebracht und dann haben mich zwei Brüder geschlagen und geschlagen und geschlagen..."

Hunderte erlebten das gleiche Schicksal wie John Prior. In den 50er Jahren lebten und arbeiteten in den "Industrial Schools" 7000 Kinder. Und die Nonnen und Brüder konnten mit ihnen machen, was sie wollten. Erst in den 70er Jahren wurden die Schulen aufgelöst. Prior erzählt von einem Bruder, mittlerweile verstorben, der in die Schlafsäle und Duschen der Jungen kam. Er zog sich aus, missbrauchte die Jungen vor den Augen der anderen. John: "Er hat mich anal vergewaltigt, hat mich über sein Bett geschmissen, mich genommen, mich aufgerissen..." John wurde sieben Jahre lang von zwei Ordensbrüdern und einem katholischen Priester sexuell missbraucht. Er erzählt auch vom Tod seines Freundes: Dieser wurde geschlagen und getreten, bis er zusammenbrach. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Dort starb er - angeblich an Leukämie.

Der Dokumentarfilm beweist, dass Kirche und Staat jahrzehntelang vom Missbrauch und Misshandlungen in den kirchlichen Schulen gewusst haben. Der Staat finanzierte die Unterbringung der Kinder trotzdem weiter. Prior hat Anklage gegen einen überlebenden Täter gestellt. Außerdem verklagt er Kirche und Staat auf Schadensersatz. Das ZDF-auslandsjournal bemühte sich um ein Interview mit dem Orden, aber der verwies auf seine Public-Relation-Firma. Auch die verweigert Auskünfte.

Die Tatsachen aber kann niemand mehr abstreiten, Entschuldigungen gibt es zuhauf:

Im März 1998 haben sich die Christian Brothers öffentlich für den Kindesmissbrauch in ihren Schulen entschuldigt. Sie richteten zusammen mit anderen Orden ein Hilfstelefon ein. Über 8000 Anrufe gab es, die Kirche hat 600 Opfer an Therapeuten vermittelt.

Martin Clarke, Sprecher der katholischen Bischofskonferenz Irland: "Es gibt keinen Zweifel, dass körperlicher und sexueller Missbraucht stattgefunden hat, absolut keinen Zweifel. Die irische Kirche hat das zugegeben und sich öffentlich entschuldigt." Man müsse jetzt herausfinden, warum es passiert ist. (Der Mann sollte den Pfaffenspiegel von Otto von Corvin [3] lesen.)

Der Premierminister versprach Gesetzesänderungen und entschuldigte sich für das Fehlverhalten des Staates, der diese Kinder ungeschützt ihren Peinigern überlies. Der Staat setzte eine Untersuchungskommission ein und stellte 10 Millionen Mark für die Therapie der Opfer bereit.

Es gab auch gute Nonnen und Brüder, sagt John Prior, aber die haben ihn nicht gerettet, sie haben geschwiegen. Die irische Kirche feiert nächstes Jahr das 1000-jährige Jubiläum der Christianisierung. Um Entschädigung müssen ihre Opfer noch kämpfen. [4] (H.J.)

[1] Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 04.09.99
[2] Horst Herrmann, Hirtenwort und Schäferstündchen, 1992
[3] Otto von Corvin, Pfaffenspiegel, 1868. Corvin wusste schon im letzten Jahrhundert, warum die Geistlichkeit so ein "Schandleben" trieb. In seinem Essay "Sodom und Gomorrha" schreibt er: "Die schaffende und erhaltende Kraft oder Macht, die wir Gott nennen, hat allen lebenden Geschöpfen den Geschlechtstrieb gegeben. Sie machte ihn zu dem mächtigsten Triebe, weil sie damit die Fortpflanzung verband, worauf sie bei allen organischen Geschöpfen besonders vorsorglich bedacht war; ja, sie stellte es nicht in den freien Willen, dem Geschlechtstriebe zu folgen, sondern zwang dazu, ihm zu folgen, indem sie die unnatürliche Unterdrückung desselben empfindlich strafte. Der gewaltsam unterdrückte Geschlechtstrieb macht Tiere toll und Menschen zu Narren."
[4] ZDF-auslandsjournal, 02.09.99

 15. September 1999 · Kultur: Veranstaltungshinweise: Update

Update der Veranstaltungstipps: www.humanist.de/veranstaltungen

 15. September 1999 · Politik: "Ein bißchen selektiv"

Eine etwas ältere Meldung, aber im Kontext der Ereignisse in Osttimor dennoch interessant: Der ehemalige britische NATO-Generalsekretär Lord Carrington kritisierte im August in einem Interview mit der Zeitschrift Saga den Kosovo-Einsatz als "großen Fehler". Er wurde mit den Worten zitiert: "Ich glaube, wir sind ein bißchen selektiv in unserer Verurteilung von ethnischer Säuberung." Milosevic hielt er nicht eher für einen Kriegsverbrecher als den kroatischen Präsidenten Franco Tudjman, der in der Krajina ca. 200.000 Serben vertrieb: "Und darüber hat sich kein Mensch aufgeregt."

"Ich denke, die Bomben haben die ethnische Säuberung verursacht. Wir haben alles viel schlimmer gemacht", sagte Carrington außerdem. Er halte es deshalb für einen grundsätzlichen Fehler, in einem Bürgerkrieg (in diesem Falle zwischen der serbischen Armee und der UCK) einzugreifen.

Lord Carrington war von 1984-1988 NATO-Generalsekretär. (EMÖ)
[AP, dpa, 27.8.99]

 15. September 1999 · Religion: Keine Kondome für Obdachlose

Ein Obdachlosenheim in Des Moines, Iowa, könnte die finanzielle und freiwillige Unterstützung einer örtlichen katholischen Kirchengemeinde verlieren, weil es an Obdachlose Kondome verteilt, um im Rahmen eines Gesundheitsprogramms die Gefahr der Übertragung von Sexualkrankheiten einzudämmen. Priester Frank Chiodo von der Basilika des Heiligen Johannes, eine der Kirchen, die das Obdachlosenheim vor acht Jahren gründeten, hatte sich bei dessen Verwaltungsrat wegen der Kondome beschwert. Es sei nicht eine Frage der Geburtenkontrolle, er habe auch nicht das Recht, Nicht-Katholiken Geburtenkontrolle vorzuenthalten. Sein Einwand gegen Kondome bestünde darin, daß sie "das Mittel" seien, um "suchtartiges, krankhaftes Verhalten fortzuführen". (Sein eigenes Verhalten zeigt jedoch, daß das sehr gut ohne geht.)

Der Beitrag von Chiodos Kirchengemeinde zum Budget des Obdachlosenheims beläuft sich auf weniger als 10 %. (EMÖ)
[The Advocate, 24.8.99]

 14. September 1999 · Kultur: Spurensuche


„Hey, Dave, what are you doing?“
(Der Computer HAL 9000 in 2001: A SPACE ODYSSEE von Stanley Kubrick)


„Before the release of the film, Kubrick had insisted it should be released everywhere in its entirety. Or else, it should not be released at all. ... Since we can already foresee its future with the Censor Board, we see no point in importing it here. The CBFC Central Board of Film Certification is definitely going to chop it drastically.“ So sagte es Denzel Diaz, zuständig für den Verleih von Filmen der Warner Bros. in Indien. Demnach hat Stanley Kubricks letztes Werk, EYES WIDE SHUT, wohl kaum eine Chance, in indischen Kinos gesehen zu werden. Denzel verschweigt dabei, daß auch die Zuschauer in den USA nicht die vom Regisseur intendierte Fassung zu sehen bekamen. Denn in der US-Fassung wurden, um eine kassenträchtigere Altersfreigabe zu bekommen, in einer 65sekündigen Orgiensequenz die „schärfsten“ Stellen mit nachträglich eingefügten computergenerierten „Personen“ verdeckt. Diese Änderungen wurden vom Studio erst nach Kubricks Tod im März dieses Jahres vorgenommen. Das trug dem Studio erhebliche Schelte ein. Das Filmmagazin „Premiere“ nannte die Maßnahme „absurd“. Und auch die Filmkritiker von east coast und west coast waren sich einmal einig: Die New Yorker Filmkritiker rügten das Studio öffentlich, weil die Eingriffe den Film ihrer Meinung nach „verschlimmbessert“ habe. Der Vorwurf der Vereinigung der Filmkritiker von Los Angeles an Warner Bros. lautete, Wirkung und Bedeutung des Films „verwässert“ zu haben.

EYES WIDE SHUT sollte in Europa in einer unzensierten Version laufen. Das stimmt zumindest für die visuellen Aspekte. Doch nachdem das Studio Beschwerden erhielt, daß die während der Orgienszene verwendeten Gesänge religiöse Texte beinhalten, entschlossen sich die Verantwortlichen, die Texte zu entfernen. An der entsprechenden Stelle ist jetzt in der europäischen und der südafrikanischen Fassung nur noch Instrumentalmusik zu hören. „We didn’t know. Mr. Kubrick didn’t know“, sagte eine Sprecherin von Warner Bros. Fraglich ist, ob der Detailbesessene Kubrick dieser Änderung zugestimmt hätte. Aber Tote können sich bekanntlich nicht mehr wehren.

Noch fraglicher ist, ob der Film EYES WIDE SHUT, so wie er momentan in den Kinos läuft, tatsächlich Kubricks Vision darstellt. In „Vanity Fair“ berichtete Michael Herr, Associate Producer und Drehbuchmitarbeit bei Stanley Kubricks FULL METAL JACKET, über eine Äußerung Kubricks, daß er den Verantwortlichen bei Warner Bros. und den beiden Hauptdarstellern, Nicole Kidman und Tom Cruise, wegen deren Zustimmung zu den Nacktszenen seine letzte Schnittfassung vorführen müsse. Michael Herr: „Ich konnte seiner Stimme entnehmen, wie er es haßte, das tun zu müssen.“ Kubrick bat Michael Herr um zwei Wochen Aufschub, um ihm dann den fertigen Film zeigen zu können, denn „die Musik sei nicht fertig, eine Menge kleiner technischer Korrekturen an Farbe und Ton zu machen“. Und darauf, daß ursprünglich eine kürzere (!) Filmlänge angekündigt war, weist Amy Taubin in „Film Comment“ hin. Beabsichtigte Kubrick, seinen Film noch zu kürzen? Sehen wir wirklich den EYES WIDE SHUT, den Kubrick im Kopf hatte? Die Spurensuche nach Mr. Kubricks final cut dürfte Filmwissenschaftler und Cinéasten in den nächsten Jahren in Atem halten. (C.B.)

[Quellen: The Internet Movie Database, 09.09.1999; Kölner Stadt-Anzeiger, 11.09.1999]

 12. September 1999 · Politik: Mitten im Leben


„Voll Lüge, Haß und Neid. Voll Unfähigkeit, Dummheit, Begriffsstutzigkeit.“
(Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923)


Der christlich-reaktionär zusammengeleimte Filz um Norbert Geis, dem Wortführer der CDU/CSU-Initiative für ein Verbot der Abtreibungspille „Mifegyne“, hat seine Androhung wahrgemacht (Vorgeschichte siehe Politik-News vom 20. Juni 1999: Frauenhasser unter sich) und am Mittwoch, 08.09.1999, einen Antrag zur Änderung des Arzneimittelgesetzes in den Bundestag eingebracht. Nach dem verqueren Verständnis der CDU/CSU soll in das Arzneimittelgesetz folgende Bestimmung aufgenommen werden: „Es ist verboten, Arzneimittel, die zur Tötung menschlichen Lebens bestimmt sind, in den Verkehr zu bringen, zu verschreiben, abzugeben oder bei anderen anzuwenden.“ Damit haben sich die Christenpolitiker, die noch am vergangenen Sonntag mit dem Spruch „Mitten im Leben“ in die Landtagswahlen zogen, selbst an den Rand der Gesellschaft befördert, denn bei allen anderen Fraktionen stieß der Antrag auf entschiedene Ablehnung. Begründet wird der frauenverachtende Vorstoß mit dem Vorwurf, die Pille könne die Tötung eines Kindes als Heilmaßnahme erscheinen lassen und somit verharmlosen. (C.B.)

[Quelle: die tageszeitung, 10.09.1999]

 11. September 1999 · Kultur: Update der Medientipps

Neue TV- und Radiotipps bis zum 19. September 99.

Die Sendung Paternoster berichtet morgen (16.30 Uhr, SWR) über die "Marienerscheinung im Saarland".

Der Wahnsinn in Marpingen nimmt Woche für Woche zu. "Für unseren kleinen Ort ist das alles eine Katastrophe", kommentiert Marpingens Bürgermeister das "Wunder an der Saar". Die Gottesmutter hat sich mal wieder in Marpingen erblicken lassen. Aber wie immer nur von den drei auserwählten Frauen, denen die unbefleckt Empfangene seit dem 17. Mai angeblich die Gnade irdischer Privataudienzen gewährt. 50000 Pilger ließen sich seitdem verdummen. Die Seherinnen sprechen Marias Worte in ein Diktiergerät, dann werden sie über Lautsprecher dem knienden Volk verkündet. Wer's daheim noch einmal hören möchte, kauft eine Kassette, vielleicht auch den Marienwald-Anstecker für vier Mark und ein Fläschchen Wasser aus der Gnadenquelle - das Gesundheitsamt warnt vor bakteriellen Gefahren...

Die katholische Kirche wundert sich, was Maria denn in Marpingen soll, ist sie doch laut Dogma von 1950 leibhaftig in den Himmel aufgefahren. Der Trierer Bischof Spital hat jetzt aber eine Kommission zur Prüfung beauftragt. Am 3. Juli 1876 soll die sagenhafte Jungfrau schon einmal an gleicher Stelle drei kleinen Mädchen erschienen sein. Bismarck schickte Truppen, und Maria wart nicht mehr gesehen... bis eben zum 17. Mai dieses Jahres. Eines der Mädchen gestand übrigens 13 Jahre später, es habe nicht die Jungfrau, sondern ein weißes Stück Holz gesehen. Aber Wunderglaube ist hartnäckig. 1936 wurde im Wald eine Kapelle gebaut, 1968 gründete sich der Kapellen-Verein. Der 81-jährige Pfarrer Helmut Gressung, wichtiger Mann im Verein und deutscher Verantwortlicher der weltweit operierenden Marianischen Priesterbewegung, möchte Marpingen zum deutschen Lourdes machen. Ist es da Zufall, dass der Greis - mit zweitem Namen Maria getauft - auch der Beichtvater der drei Seherinnen von Marpingen ist. Und man sieht sie täglich zur Beichte gehen. (H.J.)

[Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 07.09.99]

 10. September 1999 · Politik: Russland soll Atommülldeponie werden

Perestroika
die; -, kMz.
1 Umbau, gesellschaftlicher Prozess in der ehem. UdSSR seit dem Machtantritt M. Gorbatschows, der Förderung der Eigeninitiative u. Eigenverantwortung, Einführung begrenzter marktwirtschaftlicher Elemente zur Steigerung des Wohlstandes der Bevölkerung, Strukturreformen in der Parteiorganisation u. e-e Öffnung der Gesellschaft zu e-m kritischeren Bewusstsein (vgl. Glasnost) beinhaltet
2 (veraltet) Umbau, gesellschaftlicher Prozess in der Sowjetunion unter Stalin, Zentralisierung, Disziplinierung der Gesellschaft
[Microsoft Encarta Wörterbuch]

Russland, das Land mit der höchsten radioaktiven Kontamination der Welt, bereitet sich offenbar darauf vor, die maroden Staatsfinanzen mit der Deponierung großer Mengen Atommülls aus dem Ausland zu sanieren. Die Duma und der Bundesrat planen, Artikel 50(3) des Umweltschutzgesetzes zu verändern, um die Vergrabung und dauerhafte Lagerung radioaktiven Materials aus anderen Ländern zu erlauben. Das Atomenergieministerium und der amerikanische Non-Proliferation Trust (NPT, Inc.) unterzeichneten bereits im Juni, konträr zu geltendem Recht, ein "Absichtsprotokoll" zur Konstruktion einer 6000-Tonnen-Speicheranlage für verbrauchte Brennstoffe. Jeder Logik spottend schlug der stellvertretende Atomenergieminister V. Ivanov am 26. August bei einer Kabinettssitzung vor, am Weltmarkt entsprechende Lagerungsdienste anzubieten, um "das Staatsbudget zu konsolidieren und die soziale und die umweltbedingte [!] Situation Russlands zu verbessern".

Tatsächlich werden die aus dem schmutzigen Geschäft resultierenden Einkünfte der Konstruktion neuer Lagerungsstätten und der Weiterentwicklung der Atomindustrie zugute kommen. Dies folgt aus dem "Gesetz zur industriellen Lagerung und Behandlung nuklearer Brennstoffe".

Natürlich ist die große Mehrheit der Bevölkerung mit den Plänen nicht einverstanden. Doch die USA und die Atomenergie-Länder Europas sind eifrig darauf bedacht, ihren Müll loszuwerden. Seit Ende der 40er Jahre ist die Problematik der Entsorgung radioaktiver Abfälle bekannt, doch stets hat man darauf hingewiesen, daß "die Wissenschaft einen Weg finden würde" das Abfallprodukt der nuklearen Todesindustrie zu beseitigen. Kein seriöser Wissenschaftler hat derartiges jemals ernsthaft versprochen, und so wundert es nicht, daß nun nicht die Wissenschaft, sondern die Ökonomie zur Problemlösung herangezogen wird.

In Russland ist wohl die Gefahr von Terror-Anschlägen auf die Abfallager am größten, und die Eisenbahnen befinden sich in einem armseligen Zustand mit über 1000 Unfällen im Jahr. Doch spätestens seit der "Perestroika" geht man mit den 150 Millionen Einwohnern nicht anders um als mit denen jedes anderen Drittweltlandes. (EMÖ)
[Quelle: Environmental News Service, 8.9.99]

 10. September 1999 · Politik: Kongreß zur Internet-Zensur

"Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt." – Grundgesetz, Artikel 5, Abs. 1.

Die Zensurklausel im Grundgesetz war selten mehr als eine hohle Floskel, denkt man an die Berichterstattung zu Kriegszeiten oder die Abhängigkeit der Medien von PR- und Nachrichtenagenturen, Politikern, Anzeigenkunden und den Amtskirchen. Doch im Internet kann jeder publizieren, auch ohne kommerziellen Hintergrund, und das macht es so gefährlich. Vermutlich aus diesem Grunde begann gestern der "Internet Content Summit" in München, ein Kongreß zur Selbstzensur, an dem die Bertelsmann-Stiftung und INCORE (Internet Content Rating for Europe, wiederum gesponsert von Microsoft und UUNET) beteiligt sind. Unterstützt wird der Kongreß von der bayrischen Staatskanzlei und dem bayrischen Innenministerium. Ein auf "Selbstregulierung" beruhendes System zum Schutz der Jugend im Internet solle etabliert werden, heißt es. [1]

Bekannt ist seit langem, daß alle Maßnahmen zur Internet-Zensur, gleich wie "selbstregulatorisch" sie sich auch gerne betiteln, mit Zwängen durch Dritte verbunden sind, welche die Websites nach ihrem "Gefährlichkeitsgrad" etikettieren. Mit dem Internet als zukünftigem Massenmedium Nr. 1 sind solche Maßnahmen von immenser Bedeutung. Sie eröffnen religiösen Fundamentalisten die Chance, die Indoktrination ihrer Wahnvorstellungen zu perfektionieren, zwingen aber auch Schulen und Bibliotheken, fragwürdige Maßnahmen des "Jugendschutzes" zu implementieren, die nicht nur die Auseinandersetzung von Kindern und Jugendlichen mit Sexualität unterbinden, sondern teils auch essentielle Informationen vorenthalten (von AIDS-Informationsseiten über feministische oder pro-lesbische / pro-homosexuelle Angebote bis hin zu politischen Seiten, die der für die Websitetikettierung verantwortlichen Firma nicht gefallen). [2]

Auch "Selbstregulationssysteme" wie das vom W3 vorgeschlagene PICS sind letztlich nicht anders, zwingen sie doch entweder Internet-Autoren dazu, ihre Webseiten selbst zu klassifizieren (wobei bei Nichtklassifizierung der faktische Ausschluß aus dem Netz droht und die Sanktionen bei Falschklassifizierung unklar sind) oder greifen wiederum auf eine Drittagentur zurück, um die Etikettierung vorzunehmen. [3]

Wie sieht die Alternative aus? Eigentlich recht simpel: Man legt sich auf einen vernünftigen, auf dem Stand der Wirkungsforschung basierenden Jugendschutz-Standard fest. Es gibt keinen Grund, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Darstellungen konsensueller sexueller Handlungen zu verwehren. Die verbleibenden strafbaren Inhalte (rassistische Hetze, Todeslisten, Bilder von vergewaltigten Kindern usw.) wären danach um so leichter zu orten und könnten regulär strafrechtlich verfolgt werden. Es bestünde weiterhin nicht die Gefahr einer ausufernden Internet-Zensur durch fragwürdige "Bewertungs"-Anstalten. Aber, um die kürzlichen Worte eines Kirchenprominenten abzuwandeln, 2000 Jahre Christentum haben ihre Wunden geschlagen. (EMÖ)

[1] Golem Network News, 10.9.99
[2] Die heilige Familie der Inquisition, Taz, 12.3.1998
[3] Der große Bruder steht schon vor der Haustür, Taz, 16.4.98

 10. September 1999 · Geschichte: Neue Papst Pius XII.-Biografie

Papst Pius XII., erst päpstlicher Nuntius im Hitler-Berlin, dann von 1939 bis 1958 selbst vom "Heiligen Geist" auf den höchsten Thron bestellt, wurde schon immer von Kritikern vorgeworfen, die Faschisten unterstützt und zur Rettung der Juden nichts getan zu haben. Der Vatikan wies die Vorwürfe stets zurück. Der fromme Papst hätte halt im Verborgenen für die Juden gewirkt und angeblich Tausende gerettet. So hat die Kirche sogar das Verfahren zur Heiligsprechung eingeleitet.

Der Autor John Cornwell veröffentlicht jetzt eine neue Biografie über der "Stellvertreter". Das Buch "Pius XII. Der Papst und der Holocaust" wirft dem Faschistenfreund aktiven Antisemitismus vor. Laut Spiegel hatte Cornwell Zugang zum Archiv des Vatikans und wertete bisher unveröffentlichte Dokumente aus. Zu den lange Zeit geheimgehaltenen Papieren gehört ein Brief, den Pius noch als Nuntius in Deutschland schrieb. Darin bezeichnete er Juden, die 1919 Anhänger der Revolution waren, als "eine Bande junger Frauen von zweifelhafter Erscheinung, Juden wie alle anderen, die mit provokativen Benehmen und zweideutigem Grinsen herumhängen". Als Anführer nannte er einen russischen Juden, den Pius mit den Adjektiven schmutzig, vulgär, intelligent und verschlagen versah.

Ein weiteres, interessantes Dokument, das Cornwell aufspürte, ist eine Nachricht von Vertretern jüdischer Organisationen, die diese 1942 an den Papst schickten. Darin wird das Schicksal von 90.000 Juden in allen Grausamkeiten geschildert. Der Vatikan hatte bisher immer abgestritten, dass es so eine Mitteilung je gegeben hätte. Angeblich war der Papst unwissend. Kaum zu glauben bei dem guten Spionagenetz, um dass den Vatikan viele Staaten beneiden. Die Nachricht wurde laut Cornwell 1945 bei der Freigabe der Akten vom Vatikan entfernt. Fazit: Der Papst wusste alles, aber er schwieg.

Pius soll auch im Oktober 1943 von der drohenden Deportation von Juden aus Rom gewusst haben. Aber es erfolgte keine Warnung durch den Papst. Nur 15 von 1000 überlebten. [1]

Deutschland huldigte dem Papst, der alle faschistischen Staatsverbrecher Europas unterstützte - er hoffte auf eine Unterstützung gegen den Kommunismus -, auch lange nach dem Krieg, als sein Fehlverhalten schon in aller Munde war. So widmete die Deutsche Bundespost dem "Künder des Friedens, Helfer der Menschen und Zeuge des Glaubens" 1984 eine Sondermarke. Der "Künder des Friedens" hatte übrigens schon 1933 im Reichskonkordat ausdrücklich eine eventuelle Wiederaufrüstung Deutschlands erlaubt. Aber die Bundespost verkündete - von den deutschen Bischöfen verfasst - die kirchenoffiziellen Märchen, der Papst habe "während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Krieges Millionen von Menschen, die durch Verfolgung, Rassenhaß, Krieg, Vertreibung und Hunger bedroht waren, nach Kräften" geholfen.

Auch Helmut Kohl mochte noch 1986 als Bundeskanzler nicht an die Schuld Pius' XII. glauben. Er entschuldigte sich bei Johannes Paul II., dass dessen frommem Vorgänger "durch einen Schriftsteller deutscher Zunge Unrecht widerfahren" sei. Rolf Hochhuth hatte in "Der Stellvertreter" das Handeln des Papstes bloßgestellt. Kohl entschuldigte sich übrigens "im Namen des deutschen Volkes". Er verlangte also, dass nicht nur er, sondern auch alle Deutschen den kirchenamtlichen Lügen glauben sollten. [2] (H.J.)

[1] Spiegel online, 07.09.99
[2] Horst Herrmann, "Hirtenwort und Schäferstündchen", 1992.

 9. September 1999 · Der Humanist: Suchmaschine, neuer Zähler

Wie angekündigt wurde Der Humanist nun mit einer Suchmaschine von Freefind ausgestattet (lokal installierte Suchmaschinen sind wenig praktikabel). Die Suchfunktion ist jederzeit von der Hauptseite oder in der Navigationsleiste unter DER HUMANIST: SUCHEN zugänglich. Der Index wird regelmäßig aktualisiert.

Außerdem ist der alte, unzuverlässige Besucherzähler durch einen neuen ersetzt worden. Dieser verfügt auch über eine Reload-Sperre. (EMÖ)

 8. September 1999 · Kultur: Update der Medientipps

Neue TV- und Radiotipps bis zum 15. September 99.

"Monitor" war eine der wenigen Sendungen, die im NATO-Jugoslawien-Krieg kritisch berichteten, ohne den üblichen Sprachgebrauch der "humanitären Luftschläge" und der "kollateralen Schäden" zu übernehmen. Die Unicef berichtete übrigens jetzt von vielen durch NATO-Bomben beschädigte und zerstörte Schulen (darunter etliche Grundschulen) in Serbien und im Kosovo. Im Kosovo sind so immerhin laut Unicef fast die Hälfte aller Schulen "kollateral" zerstört worden.

Nun nimmt sich "Monitor" auch Ost-Timor an. Eine der Themen in der morgigen Sendung (21.00 Uhr, ARD) heißt: "Ost-Timor: Terror auch mit deutscher Hilfe".

Eine technische Neuerung: Damit Lesenswertes nicht so schnell im Archiv verschwindet, finden sich jetzt "Neuigkeiten - Leserbriefe - Reviews" in einer eigenen Datei, abrufbar in den Medientipps. (H.J.)

 7. September 1999 · Politik: Osttimor-News

Wie angekündigt bieten wir ab heute Informationen zum Osttimor-Konflikt in einer hierfür eingerichteten Rubrik, solange das Thema aktuell ist. Danach werden die Nachrichten in einer ZIP-Datei archiviert.

 7. September 1999 · Politik: The world we live in

"If we understand the mechanism and motives of the group mind, it is now possible to control and regiment the masses according to our will without their knowing it."
– Edward L. Bernays, Gründervater der Public Relations Industrie, Neffe von Sigmund Freud [1]


This is the world we live in
And these are the hands we're given
Use them and let's start trying
To make it a place worth living in.
Genesis, Land of Confusion

Nach dem Abzug der KFOR wird die UCK ganz offiziell über das Kosovo herrschen. Am Montag ließen NATO-Kreise verlauten, der KFOR-Befehlshaber Michael Jackson (not the popstar) und der UCK-Kommandeur Agim Ceku hätten die Grundzüge des hierzu aus der UCK zu bildenden "Kosovo-Korps" bereits ausgehandelt. Lediglich die Größe der Truppe ist noch Gegenstand von Diskussionen, die NATO will 3.000, die UCK 5.000.[2]

Angesichts solcher "Umformungen" einer im Kosovo folternden und mordenden Terroristenvereinigung, die ihr Geld mit internationalen Drogengeschäften macht und von der CIA und dem BND ausgebildet und bewaffnet wurde, in eine Polizei und Armee sind natürlich (und das waren sie zu jeder Zeit) jegliche Diskussionen um Entwaffnung Makulatur. Noch letztes Jahr galt die UCK in Washington ganz offiziell als "terroristische Vereinigung", und in einem Brief des deutschen Außenministeriums an das Verwaltungsgericht Trier wurde diese Bezeichnung noch im April dieses Jahres verwendet.[3] Wenn es sich bei der UCK also um Terroristen handelt, und sie die Aufgaben der NATO-Truppen übernehmen soll, was sagt dies über die NATO aus?

Während der deutsche Außenminister Terroristenführer Thaci die Hand schüttelt, werden in Osttimor die Menschen von den im ganzen Land wütenden Milizen deportiert und massakriert, auch UN-Mitarbeiter sind bereits ermordet worden. Dabei ist die Berichterstattung im Westen minimal, wir werden daher in Kürze eine Sonderrubrik mit aktuellen Meldungen aus dem Internet einrichten. Die Presse ist weitestgehend von der kleinen Insel verschwunden, und die Vereinten Nationen zögern jegliche Reaktion hinaus.

Man beachte die Diskrepanz zwischen der Medienberichterstattung zum Kosovo-Krieg und der zum Osttimorkonflikt (oder auch wahlweise zur Kurdenfrage, den Diamantenkriegen in Afrika, der Staatsoppression in Algerien oder den zahlreichen anderen wenig bekannten Gemetzeln). Will man aus strategischen oder ökonomischen Gründen einen Krieg führen, sind die Medien schnell bei der Hand, um Massaker und Konzentrationslager herbeizulügen, aber beim tatsächlichen Genozid sind sie teilnahmslos und zurückhaltend, schließlich würde die Verhinderung ja kein Geld einbringen, sondern nur welches kosten. Hinter den in allen Massenmedien ausführlich präsentierten Meinungen und Ansichten steht eine wenig bekannte Industrie, die nur produziert, wenn etwas zu holen ist.[5]

Man hat den Beginn der Massaker in Indonesien nicht verhindert, obwohl er absehbar war. Es bleibt zu hoffen, daß die vielbeschworene "internationale Gemeinschaft" nun doch noch handelt, bevor es zu spät ist. Auch wenn es mal ausnahmsweise nicht um Profit geht, sondern nur um schnöde Menschenleben. (EMÖ)

[1] In seinem "Meisterwerk" Propaganda (New York 1928), S. 47-48. Bernays ist unter anderem der Drahtzieher einer der erfolgreichsten PR-Kampagnen zur Verbreiterung des Zigarettenabsatzmarkts auf weibliche Käuferschichten. Im Auftrag der American Tobacco Company organisierte er 1929 einen Ostermarsch von Frauen, die öffentlich für das Recht auf Zigarettenrauchen demonstrierten – sie alle hielten dabei die Glimmstengel, die "Fackeln der Freiheit", in die Höhe, zu einer Zeit, als nur Prostituierte öffentlich rauchten. Infolge der Aktion stiegen die Verkäufe der Volksdroge drastisch – Emanzipation auf kommerzielle Art. Bernays' Schriften dienten als wissenschaftliche Grundlage fuer Goebbels' antisemitische Propaganda im Dritten Reich, s. auch [5].
[2] AP/dpa 7.9.99
[3] junge Welt, 29.6.99 und 4.5.1999
[4] AP 7.9.99
[5] Hierzu ein echter Geheimtip: John C. Stauber, Sheldon Rampton: "Toxic Sludge is Good For You" (Common Courage Press, Maine, 1995), kann z.B. über Amazon.de bezogen werden. Ich werde daraus gelegentlich weitere Informationen einbringen, aber die vollständige Lektüre ist uneingeschränkt zu empfehlen. Die Rezensionen bei Amazon sprechen für sich.

 6. September 1999 · Geld: "Heidensteuer" bald flächendeckend: Frist beachten

Nachdem die evangelische Kirche 1998 in Baden-Württemberg als elftem Bundesland das "besondere Kirchgeld bei glaubensverschiedener Ehe" eingeführt hat, steht diese sogenannte "Heidensteuer" nun offenbar flächendeckend bevor.

Das besondere Kirchgeld wird erhoben, wenn der (besser) verdienende Ehepartner keiner steuererhebenden Kirche angehört, der andere hingegen Mitglied der evangelischen Kirche ist. Es macht etwa 30 bis 40 Prozent der regulären Kirchensteuer aus und beträgt, je nach zu versteuerndem Einkommen, bis zu 4.500 DM pro Jahr! Offiziell soll das besondere Kirchgeld dazu dienen, auch Familien zur Finanzierung der kirchlichen Leistungen heranzuziehen, bei denen der Verdiener aus der Kirche ausgetreten ist, um die Kirchensteuer zu sparen.

Das besondere Kirchgeld dürfte allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig sein:

Erstens dürfen die Kirchen nur ihre Mitglieder besteuern und folglich auch nur Merkmale zur Besteuerung heranziehen, die sich auf diese beziehen. Die Nichtmitgliedschaft einer anderen Person (nämlich des gut verdienenden Ehepartners) zählt definitiv nicht dazu, vielmehr bewirkt dies de facto eine Besteuerung von Nichtmitgliedern. Daher auch der Vorwurf der "Heidensteuer".

Um diesem Vorwurf zu entgehen, wird behauptet, das Kirchgeld beziehe sich nur auf den Teil des gemeinsamen Einkommens, der dem kirchengebundenen Ehepartner zustünde. Im umgekehrten Fall (Verdiener ist Kirchenmitglied, der Partner nicht) wird allerdings darauf verzichtet, vor der Berechnung des Kirchensteuer den dem Nichtkirchenmitglied zustehenden Teil des Einkommens abzuziehen. Dies verstößt gegen den elementaren rechtsstaatlichen Grundsatz, dass Gleiches gleich behandelt werden muss (Gleichheitssatz).

Schließlich verstößt das Kirchgeld ironischerweise auch noch gegen den verfassungsmäßigen Schutz von Ehe und Familie. Dieser ist nämlich dahingehend auszulegen, dass zwei Partnern durch die Eheschließung kein Nachteil gegenüber Unverheirateten entstehen darf. Heiratet aber ein nicht oder nur gering verdienendes Kirchenmitglied eine(n) gut verdienende(n) Konfessionslose(n), so wird plötzlich Kirchgeld fällig, wo dies vorher nicht der Fall war.

Nun, wer in einer "glaubensverschiedenen" Ehe lebt, der kann u.U. einige hundert bis tausende Mark pro Jahr sparen, wenn er rechtzeitig diesen Sachverhalt beachtet: Sofern sich das Noch-Kirchenmitglied zum Austritt entscheidet, sollte dieser unbedingt bis Ende November 1999 erfolgen, damit die Kirchensteuerpflicht auch tatsächlich bis zur Einführung des Kirchgelds Anfang 2000 erloschen ist.

Mit der Einführung gerechnet werden muß in Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland. In allen anderen Ländern wird es bereits erhoben.

[Quelle: Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V., Rundbrief 09/99]

News-Archiv
8 | 7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1

Copyright © 1999, Der Humanist
Sie sind Besucher Nr. seit dem 9.9.1999.