Sinnvoll und zufrieden leben -
ohne Religion



von Reiner Moysich

 

Die Lebensfreude und Leistungsfähigkeit wird sehr gefördert, wenn man die Grundüberzeugung in sich hat, dass alles, was es (nicht) gibt oder was (nicht) gemacht wird, mindestens seine zwei Seiten hat. Wenn man sein (oder auch anderer) Leben unter diesem Aspekt anschaut, wird man wohl auch eine größere Anzahl von Ereignissen finden, die sich zunächst als "Glück", bald aber eher als "Unglück" darstellten - und umgekehrt!

Ich meine, das Leben ist ohne Konflikte, Schwierigkeiten, Probleme gar nicht möglich (da z.B. eine Vielzahl von widersprüchlichen Vorstellungen existieren - zum Teil sogar in der eigenen Person - und ja alles wechselseitig aufeinander einwirkt).

Wir verdanken letztendlich sogar unseren heutigen menschlichen Entwicklungsstand mit den sehr umfangreichen Möglichkeiten auch den unzähligen Vorfahren, die sich gerade wegen extremer Lebenswidrigkeiten neue Bewältigungsmöglichkeiten mühsam erworben hatten - von denen wir meist unbedacht und selbstverständlich profitieren.

Es kann also nur darum gehen, mit diesen Lebensschwierigkeiten - als einem notwendigen Motor des Lebens - kreativ umzugehen.

Lebensfreude und Leistungsvermögen hängen von vielen Faktoren ab, wobei alle wiederum miteinander zusammenhängen und wechselweise aufeinander einwirken: z.B. Erbanlagen, Umweltbedingungen, körperliche Befindlichkeit, bisherige Lebenserfahrungen und Fertigkeiten als auch - wie ich meine insbesondere - die Grundeinstellung zu sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt.

Diese Grundhaltungen wirken ständig - in jedem Augenblick - und beeinflussen entscheidend, wie ich mich fühle und was ich leisten kann.

Nach meiner Erfahrung und Überzeugung können nur partnerschaftliche Grundhaltungen dazu führen, über längere Zeit hinweg Lebensfreude und Leistungsstärke zu entwickeln (sogar trotz verschiedenartigster Schwierigkeiten körperlicher, seelischer, sozialer und finanzieller Art).


Diese Grundhaltungen sollten eingebettet und gefördert werden von einer entsprechenden Weltanschauung, die außerdem Sinn in allem (völlig egal, was passiert) sehen und ein tiefes Gefühl von Geborgenheit vermitteln kann. Meine eigene Weltanschauung hat z.Zt. neben humanistischem Agnostizismus die beiden Elemente der "Gaia"-Idee: z.B. "die ganze Erde ist ein Lebewesen" und der "Chaos-Theorie": z.B. "alles ist wichtig und verändert sich ständig".

Bei meinem (bisher einzigen) "Nahe-Todes-Erlebnis" - aufgrund einer extremen Diabetes-Unterzuckerung - waren inmitten einer wunderbar schönen Atmosphäre überall sehr deutlich diese Grundgefühle zu spüren: Verbundenheit, Partnerschaft und Wichtigkeit von allem.

Diese Verbundenheit mit allem kann auf drei Ebenen empfunden werden:

Auf der "Makro"-Ebene sehe ich die Erde eingebunden am völlig unbedeutsamen Rande einer riesigen Galaxie ("Milchstraße"), welche wiederum nur eine von unzählig vielen anderen ist. Astronauten berichten hierzu immer wieder, wie überwältigend es für sie ist, beim Weltraumflug einerseits die unendlichen Weiten des Weltraums zu erleben, andererseits beim Blick auf unseren "blauen Planeten" innerhalb eines kalt und unwirtlich anmutenden Weltraums Traurigkeit darüber zu empfinden, wie zerstörerisch die Menschen dort mit ihrem extrem kostbaren "Weltraumschiff Erde" und vor allem auch untereinander umgehen.

Wenn man von der "Mezo"-Ebene (auf der wir uns üblicherweise bewegen) den Blick in die entgegengesetzte Richtung lenkt (nach "unten"), kann man sich folgendes vorstellen: je tiefer man in die Materie vordringt, desto kleiner werden dessen Bestandteile und zugleich vergrößern sich dessen Abstände zueinander. Auf der Mikro-Ebene gibt es dann nur noch die zur Zeit kleinsten bekannten Bausteine, die sogenannten "Quarks", welche noch viel kleiner als die Atome sind. Diesen Quarks ist dann überhaupt nicht mehr anzusehen, wozu sie auf unserer "Mezo"-Ebene gehören, egal ob sie dort für uns äußerlich gesehen wahrnehmbar sind als Stein, Metall, Pflanze, Tier, toter oder lebendiger Mensch!

Höchst interessant ist, dass Quanten-Physiker meinen, dass evtl. nicht jene extrem winzigen Quarks das eigentlich Wichtige sind, sondern die riesigen dazwischen liegenden Leerräume, die etwa dem entsprechen könnten, was wir unter "Geist" verstehen. Dann aber wäre dieses Geistige überall vorhanden, also auch in Stein, Metall usw. (diese Überzeugung vertritt übrigens auch der Buddhismus!).

Von da her kann es dann auch berechtigt sein, z.B. von "Bruder Stein" und "Schwester Pflanze" zu sprechen. Zumal Astro-Physiker davon ausgehen, dass unsere Erde aus "Sternenstaub" entstanden ist und daher alles hier auf der Erde den gleichen Ursprung hat.

Von der "Unendlichkeit des Raums" nun zur "Unendlichkeit der Zeit", in welche der Mensch gleichermaßen eingebunden ist.

Ich finde es sehr schade, dass in unserer Gesellschaft der Tod meist verdrängt wird. Nach meiner Überzeugung kann das Wertvolle des Lebens nur erkannt und gelebt werden, wenn oft - möglichst täglich - die ungeheure Tatsache bedacht wird, dass nicht nur jedes andere Leben, sondern auch man (frau) selbst in jeder nächsten Sekunde schon tot sein kann (seit meiner Schulzeit begleitet mich sehr hilfreich der - wenn wohl auch etwas übertriebene - Spruch eines antiken Philosophen aus dem Lateinunterricht: "Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!" - "Was auch immer du tust, handle klug und denke an den Tod!").

Ich muss akzeptieren, dass der Preis dafür, leben zu können, der Tod ist.

Etliche Krebskranke berichten, dass sie nach der Diagnose "Krebs" zunächst sehr deprimiert waren; erst da wurde ihnen die Kostbarkeit und Einzigartigkeit des Lebens bewusst und wie wenig liebevoll sie bisher damit umgegangen waren; sie fangen an (leider längst nicht alle), viel bewusster, intensiver zu leben, sich auch über Kleinigkeiten zu freuen und haben nun - dank Krebs oder besser aufgrund ihrer eigenen Umbewertung des Lebens - wesentlich mehr(!) vom Leben - sagen, für ihr neues, besseres Lebensgefühl die Diagnose "Krebs" sogar "gebraucht" zu haben!

Aber auch in anderen Krankheiten schlummern diese positiven Hilfen. So werde ich z.B. mehrmals täglich an den Tod erinnert, wenn ich mich als insulinpflichtiger Diabetiker mehrmals täglich spritzen muss. Mir ist dabei bewusst, wenn ich dies nicht täte, wäre ich täglich schwächer und in wenigen Wochen tot. Von daher ist es für mich höchst bedauerlich, dass viele Menschen sogar noch (für mich unfassbar) sehr viel Geld z.B. für Zigaretten ausgeben, was sie hundertprozentig sehr vielfältig schädigt und außerdem noch stark ihre Lebenserwartung verkürzt!

Diese positive Umbewertung des Lebens ist durchaus auch ohne "Schicksalsschläge" machbar - obgleich dann wohl viel schwerer zu erreichen.

Wenn ich zudem die Tatsache bedenke, dass es ein ganz außergewöhnlicher Zufall war, dass überhaupt Leben auf "unserer" Erde entstehen konnte, so hilft mir dies zusätzlich, alles mit ganz anderen Augen zu sehen: ich erlebe das Leben als etwas überhaupt nicht selbstverständliches, sondern extrem wertvolles, kann jeden Tag dankbar dafür sein, überhaupt - bzw. z.Zt. noch immer - leben zu können, entdecke das Außergewöhnliche im Normalen und freue mich auch über einfache Dinge.


Januar 2001, Der Humanist
erstellt von Heike Jackler