Warum ich diese Broschüre geschrieben habe

von Reiner Moysich

 

Als Jugendlicher hatte mich die christliche Religion zunächst sehr interessiert. Ich trug - als evangelischer Christ - sogar ein Kreuz. Und beim Konfirmationsunterricht beschäftigte ich mich schon vorher mit dem Thema der nächsten Unterrichtsstunde. Weil ich noch mehr erfahren wollte, besuchte ich nach und nach auch noch die Gottesdienste der unterschiedlichsten christlichen Gemeinden samt Sekten. Dabei wurde mir immer mehr bewusst, dass jede einzelne Richtung meinte, allein die richtige christliche Religion zu haben, was mich stutzig machte.

In der Oberstufe des Gymnasiums hatte ich dann das Glück und Vergnügen, Philosophieunterricht (zusätzlich zum Religionsunterricht!) besuchen zu können, und zwar bei einem Lehrer, der es verstand, philosophisches Denken und Hinterfragen interessant und praktisch zu vermitteln (im Gegensatz zum heutigen eher -bewusst? - abschreckenden „Ersatzfach" „Ethik"-Unterricht, welcher (was ich davon erfahren habe) betont theoretisch orientiert ist und den Inhalten eines Philosophiestudiums ähnelt. Zufällig stieß ich dann beim Radio hören auf eine Sendung über das Buch des Philosophen und Nobelpreisträgers Bertrand Russell „Warum ich kein Christ bin". Spätestens beim nachfolgenden Lesen des Buches wurde mir klar, dass mein früheres Christsein ein - wenn auch verständlicher - Irrtum war. Russell überzeugte mich (bis heute), dass die Fundamente des Christentums wissenschaftlich und philosophisch unhaltbar, unglaubwürdig sind (z.B., dass es keinen stichhaltigen Gottesbeweis gibt). Außerdem belegte er vielfältig, wie unmoralisch das Christentum sich verhält, wenn es andere Überzeugungen abwertet bis hin zum millionenfachen grausamen Abschlachten Andersdenkender. Seitdem begleitet mich sehr hilfreich seine Überzeugung: „Eine gute Welt braucht Wissen, Güte und Mut!"

Als Student bin ich dann gleich aus der Kirche ausgetreten. Viele Jahre später wurde ich dann selbst mit dem gleichermaßen mächtigen wie schädlichen Einfluss der christlichen Kirchen konfrontiert. Zunächst ereignete sich dies:

Wie ich selbst am Beispiel meines ältesten Sohnes erfahren habe, bekamen (wie mir später die Stadtverwaltung und nun Bürgermeister Eidenmüller bestätigt hat) z.B. im Städtischen Klinikum der Stadt Karlsruhe „bis in die 70er Jahre" alle neugeborenen Kinder, bei denen die Eltern keine Konfession angegeben haben (was meine Frau und ich bewusst so getan hatten aus Respekt vor der individuellen Religionsfreiheit!) automatisch - ohne Befragung oder Benachrichtigung der Eltern! - die Konfession der Mutter.

Erst ca. 18 Jahre später(!) stießen wir auf diesen Vorgang, als mein Sohn eine Lohnsteuerkarte brauchte. Auf dieser war zu unser aller großen Überraschung bei „Konfession" "r.-kath." angegeben (= Konfession meiner Frau). Es war sehr mühsam(!) zu erreichen, dass dieser bewusst falsche Eintrag geändert wurde. Das Finanzamt wollte zunächst unbedingt eine „Kirchenaustrittserklärung" haben (was natürlich unmöglich war); erst nach einer längeren Zeit war es dann mit viel Hartnäckigkeit und Aufwand endlich gelungen, vom „Katholischen Kirchenbuchamt Karlsruhe" der „Erzdiözese Freiburg" eine schriftliche „Bestätigung" zu bekommen, dass von meinem Sohn „keine röm.-kath. Taufe vorliegt bzw. bekannt ist." Da (auch) diese (sicherlich) verfassungswidrige Regelung wohl kaum auf die Stadt Karlsruhe beschränkt war bzw. andernorts evtl. noch immer besteht, muss man davon ausgehen, dass eine große Anzahl von „Christen" noch nicht einmal als „Karteileichen" bestehen, sondern ohne Wissen der Betroffenen oder - wie bei uns geschehen - sogar entgegen der ausdrücklichen Erklärung als Kirchenmitglieder geführt werden!

Durch die o.g. absurde Regelung verschafften die deutschen Kommunen außerdem unrechtmäßig den Kirchen

(Auch im Internet werden seit Jahren Fälle ähnlicher bzw. anderer Art widerrechtlicher Mitgliedsführung geschildert, z.B. unter den Überschriften: „Falsche Daten für die Kirchensteuer" und „Wie Kirche und Staat Konfessionslose wieder zu Kirchensteuerzahlern machen wollen".)

Dann erfuhr ich 1994 aus der Tageszeitung die kurze Mitteilung, dass das Bundesverfassungsgericht (BVG) entschieden hatte, dass auch Arbeitslose, welche keine Kirchenmitglieder sind, Kirchensteuer zahlen müssen. Da nahm ich mir vor, falls ich arbeitslos werde, würde ich alles tun, diese krasse Ungerechtigkeit abzuschaffen. Als ich dann tatsächlich arbeitslos wurde, legte ich gegen den Arbeitslosengeld-Bescheid Widerspruch ein, und zwar mit der Begründung, dass die Kirchensteuer, welche mir vom Arbeitslosengeld abgezogen wurde (obwohl seltsamerweise nicht extra vermerkt) verfassungswidrig sei. Die Klägerin, welche beim BVG Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte, hatte - im Gegensatz zu mir - nichts gegen die Kirchensteuer an sich gehabt; sondern nur gegen die Regelung des Arbeitsförderungsgesetzes, nach dem Arbeitslose alle jene Abgaben abzuführen haben, welche von den meisten Arbeitnehmern auch abgeführt werden. Das BVG hatte am 23. März 1994 beschlossen:

"Die Regelung des Arbeitsförderungsgesetzes, wonach auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehören, bei der Berechnung des Nettoentgelts, nach dem sich die Höhe des Arbeitslosengeldes bestimmt, ein Kirchensteuer-Hebesatz berücksichtigt wird ... , ist mit dem Grundgesetz vereinbar." (Arbeitslose müssen also alle Abgaben abführen, welche auch von den meisten Arbeitnehmern abgeführt werden.)

Sehr wichtig: Bei diesem Urteil ging es also nur um die Frage der Rechtmäßigkeit des Arbeitsförderungsgesetzes - überhaupt nicht um die der Kirchensteuer! [siehe vollständige BVG-Pressemitteilung mit zusätzlicher Anmerkung von Reiner Moysich].

Fairerweise möchte ich noch betonen: im ausführlichen BVG-Urteil wird für die Kirchensteuer der konfessionsfreien Arbeitslosen auch der Begriff „(fiktive) Kirchensteuer" verwendet (zur Abgrenzung der sonst üblichen Kirchensteuer), zumal diese Art der Kirchensteuer nicht die Kirche, sondern der Staat erhält.

Weil also die große Mehrheit der Arbeitnehmer Kirchensteuer zahlen, müssen diese Steuer auch sämtliche Arbeitslose zahlen, also auch die über eine Million von konfessionsfreien Arbeitslosen. Diese Schätzzahl ergibt sich aus:

Meinem Widerspruch wurde erwartungsgemäß nicht stattgegeben. Es wurde auf die vorgenannte BVG-Entscheidung verwiesen, wonach diese Regelung rechtens sei. (Ein Urteil darüber, ob die Kirchensteuer an sich verfassungswidrig ist, darf das Arbeitsamt nicht fällen, selbst wenn es selbst davon überzeugt ist; dieses steht nur dem BVG zu.) Nachdem ich gegen diesen Bescheid Klage erhoben hatte - Sozialgericht, Landessozialgericht (LSG), Bundessozialgericht (BSG) - hatte ich dann nach drei Jahren die Möglichkeit, meine Verfassungsbeschwerde für das BVG zu schreiben.

Durch Verknüpfung unglücklicher Umstände (zu späte Benachrichtung durch meinen Anwalt; eigener Krankenhausaufenthalt) kam die Verfassungsbeschwerde einen Tag zu spät beim BVG an - nach dem negativen Urteil des BSG war für diese Beschwerde nur ein Monat Zeit vorgesehen. Mein daraufhin gestellter Antrag auf „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" (also meine begründete Entschuldigung der Fristüberschreitung) wurde vom BVG ohne Begründung abgelehnt. Schließlich wurde auch noch von der „Europäischen Kommission für Menschenrechte" (Straßburg) meine Beschwerde gegen diese Ablehnung ohne Begründung verworfen (nach den Menschenrechten muss eigentlich für eine Beschwerde genügend viel Zeit zur Verfügung stehen).

Als ich mich dann November 1998 erneut arbeitslos melden musste, legte ich natürlich beim Arbeitsamt gleich wieder Widerspruch gegen den Abzug der Kirchensteuer ein und erhob anschließend wieder Klage beim Sozialgericht. Seit Mai 1999 liegt meine Berufungsschrift nun schon beim Landessozialgericht Stuttgart.

Im September 2000 wurde von Kardinal Ratzinger die umstrittene vatikanische Erklärung „Dominus Jesus" verkündet. Und im „Focus" wurden Teile des neuen Buches „Gott und die Welt" (Erscheinungsdatum 10.10.00) abgedruckt, welches ein Interview des langjährigen Vertrauten Ratzingers, Peter Seewald, mit Ratzinger zum Inhalt hat. Die Ankündigung dieses Buches veranlasste mich dazu, diese Broschüre zu verfassen, sozusagen auch als Entgegnung.

Schließlich: Im Focus (Nr. 38/2000) wurde berichtet, dass die „Zeugen Jehovas" beim Bundesverfassungsgericht kirchenähnliche Privilegien erreichen wollen. Die (inzwischen stattgefundene) „mündliche Verhandlung soll eine öffentliche Debatte auslösen, wie weit der Staat religiöse Gruppen überhaupt beurteilen darf. Am Ende könnte -nach amerikanischem Vorbild - eine schärfere Trennung zwischen Staat und Religion stehen, hoffen Verfassungsrichter."

Meine Broschüre ist auch ein Beitrag zu dieser gewünschten „öffentlichen Debatte". Möge sie dazu beitragen, dass recht bald eine strikte „Trennung zwischen Staat und Religion" erreicht wird und somit sämtliche schädigenden Bevorzugungen der Kirchen wegfallen - zum sehr großen Nutzen aller Menschen, egal welcher Weltanschauung! Ich will, kann und werde nicht tolerant sein gegenüber Intoleranz!


Januar 2001, Der Humanist
erstellt von Heike Jackler