Der Fuß Gottes

von
Christian Barduhn

 

„Tapfer hielt er bis zu seinem unglaublichen Ende bei sich, daß die Zeit des Schlafs Verschwendung und folglich Sünde sei, ihm dereinst im Fegefeuer aufgerechnet werde, denn im Schlaf sei man tot, jedenfalls lebe man nicht wirklich. Nicht von ungefähr vergliche ein altes Wort Schlaf und Tod mit Brüdern.“
(Robert Schneider: Schlafes Bruder)

 

Während sich eine Frau und ein Junge einen Berg hinaufkämpfen, beschreibt die Kamera einen Gleitflug über die Alpen, verharrt einen Moment in Raum und Zeit, um dann um so erbarmungslos-sezierender in das Bergdorf Eschberg einzufallen. Mit diesem retardierenden Moment scheint es, als zögere der Christengott, seinen Fuß nochmals in die (mittlerweile gott-)verlassene Gegend zu setzen. Drastisch und ohne Sentimentalität beäugt der Regisseur Joseph Vilsmaier die von langanhaltender Inzucht geprägten Strukturen des Dorfes.

Die Frau, die Hebamme, ist gekommen, um ein Kind zu entbinden. Doch noch während die Hebamme, begleitet von den Schreien der Gebärenden, ihre Arbeitsutensilien herrichtet und darüber lamentiert, daß diese wirklich ihre letzte Geburt sei, entschlüpft ein lebloser Körper dem Leib der Frau. Erst als die Geburtshelferin ein Tedeum intoniert, erwacht der Junge zum Leben. Vom Dorfpfaffen, der ihn auch zeugte, wird er auf den Namen Johannes Elias Alder getauft. Elias, ungeliebt und weggesperrt – am schwersten wiegt das Antlitz der eigenen Schande –, entwickelt sich zu einem Außenseiter.

Eschberg, jener magische Ort hoch droben hinter den Bergen, an dem noch Wunder möglich sind, in dem der Spaß der Kinder darin besteht, sich im Schlamm zu wälzen und ein Vater den Arm seines Kindes zur Bestrafung mit einem Holzscheit bearbeitet, ist für Elias kein Hort der Freude. Erst als er heimlich die Kirchenorgel spielt, schleicht sich ein echtes Lächeln in sein Gesicht.

Weit außerhalb des Dorfes ruht ein von einem Gebirgsbach gespeister Weiher. Darin ein Felsblock, dem die Natur (?) die Form eines Fußes gegeben hat. Zeitgleich mit Elsbeths Geburt geschieht das langangekündigte Wunder: Elias, begleitet von ihrem Herzschlag, folgt dem Ruf einer höheren Macht. Er legt sich nackt auf den Felsblock und empfängt das absolute Gehör, welches ihm ermöglicht, das Universum tönen zu hören und mit dem er, wie er später bemerkt, „die Dinge zum Klingen bringen kann“. Ein Dorfjunge, Peter, beoachtet ihn; beide sind fortan untrennbar verbunden.

Elias, nun herangewachsen, restauriert mit Peters Hilfe die Kirchenorgel. Spielen darf sie nach wie vor nur der Organist und Dorflehrer Oskar Alder, der den Schülern die Erbsünde anhand eines inzüchtigen Mongoloiden erklärt. Peter liebt Elias. Elsbeth, Peters Schwester, ebenso, ist aber bereits Lukas versprochen. Elias’ Liebe zu Elsbeth ist so gewaltig, daß er sie nur in Musik ausdrücken kann. Lukas begehrt Elsbeth, doch nicht aus Liebe, eher aus einem dumpfen, neiderfüllten Besitzanspruch heraus. Elias verbringt viel Zeit mit Elsbeth; einmal erklärt er ihr auf seinem Stein, daß dieser ein Fußabdruck Gottes sei („Wenn Gott über die Sterne geht...“), von dem aus er in den Himmel kommen werde.

Nach einer Verkaufsfahrt in die Stadt Feldberg, durchqueren die beiden das städtische Elendsviertel. Vilsmaier zeigt hier eine Welt der binären Codierung: die Zivilisation, Feldberg, teilt sich zwischen Reichtum und Armut, zwischen Sinnlichkeit und Siechtum, Vitalität und Verfall. Es scheint, als benutze der Regisseur bewußt die naiven Stilmittel des deutschen Heimatfilms, um das Genre seiner endgültigen Demontage zu überantworten. Und dann, ganz langsam, bekommt man den Verdacht, daß hinter der Schwarzweiß-Zeichnerei ein Konzept der Dualität angelegt ist, daß irgendwo in der archaischen Gebirgswildnis Eschbergs positives Gegenstück existieren muß.

Elias hat seine Arbeit an Eschbergs Machtsymbol, der Kirchenorgel, vollendet. Ein Wechsel steht bevor, den der Dorflehrer instinktiv fühlt. Seine Machtposition kann er nur mit einem unvollkommenen Instrument verteidigen, ein tadelloses würde seine Inkompetenz bloßlegen. Er zieht die Konsequenz und erhängt sich. Bei der nächsten Andacht läßt Elias seiner genialen musikalischen Begabung freien Lauf. Verwirrt durch das entfesselte Orgelspiel, kehrt die Gemeinde dem Pfaffen – der schon so weit vom Altersschwachsinn gezeichnet ist, daß er bei einer Beerdigung eine Taufe vollziehen will – den Rücken. Ist Elias ein neuer Prophet?

Elsbeth, die Elias’ Sprache der Liebe nicht verstehen kann und sich von ihm zurückgewiesen fühlt, gibt sich Lukas hin. Noch während Elias spielt, vernimmt er durch sein absolutes Gehör das Schnaufen und Stöhnen der beiden, verläßt die Kirche und beobachtet sie. Nun, da es zu spät ist, ist er bereit, seine Liebe auch verbal auszudrücken. Ratsuchend wendet er sich an den Köhler des Dorfes. „Wer liebt, schläft nicht“, sagt der. Elias ist ergriffen von der Kraft und der Reinheit dieser Worte. Eifersucht hält Einzug. Peter will eine Beziehung zwischen Elias und Elsbeth um jeden Preis verhindern. „Jetzt kommt ’was anderes“, überzeugt er sich selbst und steckt das Dorf in Brand. Den Köhler, den Ketzer, der schon des öfteren gegen die Kirche rebellierte, hat man schnell als Schuldigen ausgemacht. „Auge um Auge...“, heißt es in der Bibel und eine Handvoll Männer verbrennt ihn.

Die Bewohner verlassen Eschberg, um in dem Elendsviertel der Stadt unterzutauchen. Ein Teil der Familie Alder und Peter bleiben zurück. Irgendwann kommt ein gewisser Friederich Fürchtegott Goller an den Überresten des Dorfes vorbei. Seine Aufgabe ist die Inspizierung und Registrierung sämtlicher Orgeln des Landes. Nachdem er Elias spielen hörte, nimmt er ihn und Peter zu einem in Feldberg stattfindenden Orgelwettbewerb mit.

Elsbeth, die sich in der Stadt prostituieren mußte, um ihre Tochter und den kranken Lukas durchzubringen, sieht Elias und gelangt mit Hilfe eines Freiers in die Kirche. Elias soll über „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“ extemporieren, doch er sitzt an der Orgel seines/des Lebens und verwandelt seine Gefühle und Gedanken in Musik. Alles wird Musik: seine Verzweiflung, sein Zorn, seine Vergangenheit, seine Heimat und seine Liebe – Elsbeth. Das Wort „Gotteslästerung“ wird anfänglich im Munde geführt, aber letztendlich ist sich das (Kirchen-)Volk einig: „Ein Wunder!“ Elsbeth versucht vergeblich, ihn durch die jubelnde Menge zu erreichen. Peter, der von ihrer Anwesenheit weiß, entzieht ihn ihrem Zugriff. Elias kehrt mit Peter an den Ort zurück, an dem alles begann: zum Fußabdruck Gottes. „Ich werde nicht mehr schlafen“, verkündet er, beginnt sein Martyrium und stirbt. Peter verscharrt ihn unter Grassoden.

Eine gewisse Tradition – ich verwende dieses für meine Begriffe negativ besetzte Wort ganz bewußt, weil es wie kein anderes mit dem deutschen Heimatfilm verbunden ist – in der deutschen Nachkriegsliteratur besteht in der Verweigerungshaltung der Charaktere: Oskar Matzerath, der sich in Günter Grass’ Die Blechtrommel weigert, zu wachsen; Jean-Baptiste Grenouille, der sich in Patrick Süskinds Das Parfum weigert, die menschliche Moral zu übernehmen; und der Elias aus Robert Schneiders Schlafes Bruder, der sich weigert, zu schlafen. Wenn auch alle drei Figuren aus unterschiedlicher Motivation heraus handeln, besitzen sie doch eine Gemeinsamkeit: Die Verkörperung der Verweigerungshaltung ist die Soll-Bruchstelle in einem erstarrten System. Die Reaktionsfähigkeit eines Systems auf Individualität wird herausgefordert und das Individuum, als Ergebnis des Kräftemessens, gebrochen, gefestigt oder spirituell erhöht (reines Wunschdenken, daß ein Einzelner den Systemzusammenbruch herbeiführt).

Vilsmaier bricht – ähnlich wie Sergio Corbucci 1966 mit DJANGO die Mythen des US-Westerns zertrümmerte – mit den Konventionen des Heimatfilms. Der Dreck, das Elend, die Inzucht, die Gewalt – die totale Negation der sakrosankten Werte des Heimatfilms. Jenes unrühmliche Genre, das der Adenauer-Ära zur Errichtung eines restaurativen Gesellschaftskonsens und zur Beschleunigung der Verdrängungsprozesse diente. Und wahrscheinlich liegt in dieser Zeit der von „oben“ verordneten (und von „unten“ gewollten!) Volkssedation einer der Ursprünge für die literarische Verarbeitung der Verweigerungshaltung, samt der ihr einst innewohnenden Irrationalität, die Realität nicht zu akzeptieren bzw. die Vergangenheit nicht aufzuarbeiten.

Am Ende des Films kämpft sich Elsbeth mit ihrer Tochter einen Berg hinauf und versucht, ihr Elias’ Stein zu zeigen. Aber der ist verschwunden. Elias, das ist laut der Bibel (AT / 2. Buch der Könige) jener obskure Prophet, der in einem Feuerwagen gen Himmel ritt. Johannes Elias Alder, die von Gott auf so grausame Weise geprüfte Kreatur, hat seine eigene Himmelfahrt angetreten. Und in der Tat inszeniert Joseph Vilsmaier SCHLAFES BRUDER mit geradezu alttestamentarischer Bilderwucht. In der letzten Einstellung entfernt sich die Kamera langsam von Elsbeth, zeigt sie fest verwurzelt in der Gebirgslandschaft. Nein, ein Stadtmensch wird sie niemals werden. Eher scheint es, als widme sie ihr weiteres Leben der Suche nach Eschbergs positivem Gegenstück. Hoffnung? Vielleicht. So ist es nur konsequent, daß dieser letzte Panorama-Scope-Blick, die Kameraeinstellung für Freiheit schlechthin im Kino, hier ein Gefühl der Beklemmung, der Ungewißheit auslöst.


SCHLAFES BRUDER (D/Ö, 1995)
Regie: Joseph Vilsmaier
Drehbuch: Robert Schneider (frei nach seinem Roman Schlafes Bruder)
Kamera: Joseph Vilsmaier
Länge: 130 Minuten (Kino)
Darsteller: André Eisermann, Dana Vávrová, Ben Becker, Michaela Rosen, Jürgen Schornagel, Eva Mattes, Lena Stolze


© Christian Barduhn, im März 1999    Index    Der Humanist