Die christlichen Wurzeln des Nationalsozialismus


Millenaristische Bewegungen und das Reich Gottes - Teil 2

Die Wurzeln der nationalsozialistischen Weltanschauung

Es folgt also, daß Christen auf die Wiederkehr des Erlösers, auf das tausend Jahre währende Reich Gottes warten müssen, um das Judenvolk endgültig vernichtet zu sehen. Wer daran zweifelt, daß Adolf Hitler als ein solcher Erlöser empfunden wurde, und daß die im Deutschland der dreißiger Jahre verbreitete nationalsozialistische Ideenwelt aus diesen christlichen Vorstellungen erwuchs, hat entweder nicht den Mut oder nicht die Gelegenheit gehabt, sich mit den Details dieser Weltanschauung auseinanderzusetzen.
Vor dem Hintergrund einer mittlerweile fast zweitausendjährigen christlichen Geschichte reiht sich der Nationalsozialismus vielmehr fast nahtlos als eine weitere der in unregelmäßigen Abständen immer wieder im Christentum aufkommenden apokalyptischen Bewegungen ein, auch wenn er sich von seinen theologischen Wurzeln so weit entfernt hat, daß er als "christliche Bewegung" nicht mehr zu umfassen ist. Doch daß neben dem christlichen Millenarismus auch noch andere Einflüsse sichtbar werden, beispielsweise ein wenig Sozialdarwinismus und Germanenmythologie als schmückendes Beiwerk, färbt den Kern nationalsozialistischer Ideologie nur unwesentlich. Maccoby schreibt dazu:

"Der Nationalsozialismus war in seinem Wesen eine millenaristische Doktrin, wenngleich er auch in säkularen Begriffen formuliert wurde. Schon sein zentraler Slogan des 'tausendjährigen Reiches' entstammt direkt dem Vokabular der millenaristischen Bewegungen (und dort wiederum aus der Offenbarung des Johannes 20:4-6). In dem Terminus der 'Endlösung', mit dem die Nazis ihre Politik der Judenvernichtung bezeichneten, sind die apokalyptischen Obertöne kaum zu überhören. Man verstand darunter die Reinigung der Menschheit von rassischer Verseuchung ...
Nur die Juden waren zur vollständigen Ausrottung bestimmt, 'minderwertige' Rassen, wie etwa die Slawen, sollten zwar ihrer Führung und ihrer kulturellen Elite beraubt werden, dann aber als Sklaven der 'Herrenrasse' am Leben bleiben...
Die Stellung von Hitler selbst, einer halb-göttlichen Gestalt, ist der Rolle Christi bei seiner Wiederkunft parallel. Es fiel Hitler daher als Teil seiner Rolle zu, wie im Mythos des Kampfes Christi gegen den Antichrist, die Welt endgültig von den Kräften des Bösen zu befreien, und das waren eben die Juden.
Auf diese Weise formulierten die Nazis in rassistischem Vokabular die Vorstellung der endgültigen Überwindung des Bösen, welche die Essenz des christlichen Millenarismus darstellt. Daß die Wahl des Zieles dabei auf die Juden fiel, ist das direkte Ergebnis jahrhundertelanger christlicher Lehre, in welcher die Juden als dämonisches Volk, dem Bösen verschrieben, eine Sonderstellung besaßen."
[MS175]
Auch in den Schriften von Hitler selbst finden sich noch Hinweise auf die theologischen Ursprünge seiner Weltanschauung:
"So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn",
schrieb er in seinem berüchtigten Mein Kampf, und so wird auch schon ein wenig verständlicher, in welchem Kontext eigentlich "der Jude" aus der Sicht des nationalsozialistischen Wahns "seinen Weg zur Weltdiktatur" zu beschreiten drohte. [HM70ff]
(Nur am Rande sei vermerkt, daß die katholische Kirche vierhundert Jahre brauchte, um einen Galilei zu rehabilitieren, einen Hitler aber bis heute nicht exkommuniziert hat.)

In diesen Zusammenhang paßt, daß sich die Gruppe der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung auffällig wenig von denjenigen Menschen unterscheidet, die bereits seit mehr als einem Jahrtausend von der katholischen Kirche verfolgt worden waren: vor allem natürlich Juden, daneben aber auch Homosexuelle (der "widernatürlichen Unzucht" Schuldige), Häretiker und Philosophen (Abweichler, Kritiker und Intellektuelle), Hexen (Abtreiberinnen und Frauenrechtlerinnen), und ganz allgemein Weltverbesserer (Demokraten, Sozialisten, Menschenrechtler sowie Gegner von Todesstrafe und Sklaverei).

Einmal mehr findet sich die Idee, die Welt von den Bösen zu reinigen (und die Bösen im Ofen zu verbrennen), auch direkt im Evangelium wieder:

Matthäus 13
36 Und seine [Jesus'] Jünger traten zu ihm und sprachen: Deute uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker. 37 Er antwortete und sprach zu ihnen: Der Menschensohn ist's, der den guten Samen sät. 38 Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder des Bösen [womit v.a. diejenigen gemeint sein dürften, die nicht an Jesus glauben!],  Der Feind, der es sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter sind die Engel. 40 Wie man nun das Unkraut ausjätet und mit Feuer verbrennt, so wird's auch am Ende der Welt gehen. 41 Der Menschensohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alles, was zum Abfall verführt, und die da Unrecht tun, 42 und werden sie in den Feuerofen werfen.

In diesem Gleichnis ist es Jesus selbst, der seine Gegner als Unkraut bezeichnet, das er in den Ofen zu werfen gedenkt. Hier wird der besondere Skandal deutlich, der eigentlich darin besteht, wenn in der Bundesrepublik wieder einmal "christliche Werte" (was immer damit gemeint sein mag) als Bollwerk gegen politischen Extremismus und Intoleranz empfohlen werden.

Daß diese Verbindung zwischen Evangelium und nationalsozialistischer Politik nicht bloße Theorie ist, sondern von den Nationalsozialisten, von denen sich viele selbst als die wahren Christen verstanden, auch ganz offen wörtlich interpretiert wurde, läßt sich an vielen ihrer verbalen Angriffe gegen Juden zeigen, aber auch an Attacken gegen ihre Mitchristen, dort nämlich, wo jene nicht mit dem Nationalsozialismus konform gehen wollten.

So ist etwa im September 1934 in der Nr.37 des "Stürmer"  folgendes über die Parteizeitung einer christlichen Oppositionspartei zu lesen, die Kritik am nationalsozialistischen Deutschland zu drucken wagte:

Dieser Sorte feiger Stänkerer muß das Handwerk gelegt werden. Sie sind Schädlinge des Staates und Schädlinge des Christentums. Sie sind schuld, wenn das gesunde Volk sich vom Christentum abwendet. Denn das Volk versteht unter Religion etwas anderes, als was diese Duckmäuser und bigottischen Mameluken meinen und sagen.

Diese "Opposition" treibenden Afterchristen sind das schlechteste Unkraut, das im deutschen Volke sich befindet. Wie es zu behandeln ist, steht im Evangelium geschrieben: Man soll es ausreißen und vernichten.
[DS37]

Auch viele der bekanntesten Nazi-Slogans und Parolen entstammen christlichem Vokabular oder gleich direkt dem Evangelium. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" ist schlicht eine Adaption von Matthäus 12:30.

Ebenso gilt dies für die Reden von Hitler selbst:

Für Hitler kam immer irgendwann "die Stunde". Auch diese Floskel gehörte zu den religiösen Einsprengseln seiner Reden. Wir finden sie als Einleitung prophetischer Jesusworte im Neuen Testament: "Es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten." (Joh 16,2) "Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in verhüllter Rede zu euch spreche." (Joh 16,25) "Es kommt die Stunde, und schon ist sie da, in der ihr versprengt werdet, und ihr werdet mich allein lassen." (Joh 16,32) "Es kommt die Stunde, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden." (Joh 5,25)
Hitler verhieß: "Es kommt die Stunde, da schlage ich zurück, und dann mit Zins und Zinseszins." (Rede am 8. November 1942) "Es wird der Augenblick kommen, da die Herren, die jetzt die gesamte Welt berreits mit dem Munde erobern, mit den Waffen standhalten müssen." (Rede am 8. November 1940) "Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß am Ende die Zeit der Prüfungen von uns erfolgreich bestanden werden wird und die Stunde sich dann nähert, da uns der Allmächtige wieder seinen Segen genau so schenken wird, wie in langen Zeiten vordem." (Rede am 12. November 1944) "Es wird die Stunde kommen, da wir vor die Gräber der Gefallenen des großen Krieges hintreten und sagen werden: Kameraden, auch ihr seid nicht umsonst gefallen." (Rede am 8. November 1941).
[RB66f]

Überhaupt fungierte Hitler als Erweckungsprediger ("Deutschland erwache"!), als "der größte Feldprediger der Nation", wie SPD Zeitungen vor 1933 spöttelten. [RB25]
Bei einer Gedenkveranstaltung für den NS-Sänger Horst Wessel feierte Hitler "die Auferstehung der toten Helden" und verkündete pathethisch:

"Kameraden, erhebt die Fahnen: Horst Wessel, der unter diesem Stein liegt, ist nicht tot. Täglich und stündlich ist sein Geist bei uns, marschiert er in unseren Reihen."
[RB23]

Ähnlich hatte Christus seine Anhänger belehrt, die um den toten Lazarus trauerten:

"Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben." (Joh. 11:25)
Hitler erklärte bei einer Trauerfeier:
"Unsere Toten sind alle wieder lebend geworden. Sie marschieren nicht nur im Geist, sondern lebendig mit uns mit. Das sei unser Schwur in dieser Stunde, daß wir dafür sorgen wollen, daß dieser Tote in die Reihen der unsterblichen Märtyrer unseres Volkes einrückt. Dann wird aus seinem Tod millionenfaches Leben kommen für unser Volk."
[RB23]

Aus dem Blut der Märtyrer wird der Samen der Kirche - wie einst in der christlichen Urgemeinde. So behauptete Hitler über seine "Parteimärtyrer":
"Das Blut das sie vergossen haben, ist zum Taufwasser geworden für das Dritte Reich." [RB23]

Diesem neutestamentlichen Hintergrund läßt sich noch die spätere nationalsozialistische Politik vom "Lebensraum im Osten" an die Seite stellen, also die Eroberung der Ostgebiete zur anschließenden deutschen Besiedelung. Deren ursprüngliche, minderwertige Bevölkerung auszurotten oder zu unterjochen war die Rolle, für die die Vorsehung die deutsche Herrenrasse auserkoren hatte. Hierin ist unschwer das Muster des "Gelobten Landes", Kanaan, wiederzuerkennen, dessen Eroberung Gott seinem "auserwählten Volk" ebenso befiehlt wie die Ausrottung der dort lebenden sieben "götzendienerischen Völker" (z.B. 5.Mose Kap.7). Muß noch daran erinnert werden, daß Christen bis in die jüngste Vergangenheit - ja, bis in die Gegenwart, denkt man etwa an Äußerungen mancher Christlich-Orthodoxen Geistlichen Serbiens - die Rede vom "auserwählten Volk" auf sich bezogen, sich selbst als das "Wahre Israel" verstanden?

Im Übrigen haben auch die Furchtbaren Juristen ihre Vorläufer in den christlichen Inquisitionstribunalen, die nicht dazu eingesetzt worden waren, Recht zu sprechen, sondern die Reinheit des einzig wahren Glaubens zu sichern und Abweichler auszumerzen. Wie später in Freislers Volksgerichtshof, der Zweifel am Endsieg und an der nationalsozialistischen Lehre vom Deutschen Volkskörper fernzuhalten hatte, konnte man auf Verteidigung und Anklage verzichten, denn ersteres wurde nicht benötigt, da das Urteil meist von vorneherein feststand, und letzteres übernahm ja bereits der Richter selbst.

Sicher wäre es eine unzulässige Vereinfachung, zu argumentieren, die Nazis hätten nur gemäß vielleicht fraglicher Interpretationen christlicher Schriften gehandelt. Es ist aber kaum zu übersehen, weshalb die Gedankenwelt der Deutschen, die wie natürlich auch die anderer Europäer durch Jahrhunderte christlicher Lehre und Indoktrination geprägt war, einer politischen Ideologie ganz ähnlichen Musters so wenig entgegenzusetzen hatte.

Doch auch wenn nicht immer leicht zu entscheiden ist, wie weit die Nationalsozialisten ihrer eigenen Ideologie geglaubt haben, oder wie weit sie die religiösen Motive kirchlicher Rituale oder neutestamentliche Jesusworte nur propagandistisch auszunutzen wußten, wird man der Frage nicht ausweichen können, wie es zu werten ist, daß sich Versatzstücke aus Christentum und biblischer Moral so hervorragend als Ecksteine dieser Ideologie eigneten.

Ein besonders peinliches Beispiel christlicher Verdrängungsarbeit zeigt sich dabei anhand einer Passage aus dem Alten Testament, die die Eroberung der Ammoniterstadt Rabba durch König David erzählt. Martin Luther hatte hier noch ganz unbefangen übersetzt:

2. Samuel 12
31 Aber das Volk drinnen führte er heraus, und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile, und verbrannte sie in Ziegelöfen. So tat er allen Städten der Kinder Ammon.
[SB]

Hier ist zwar das hebräische Original nicht eindeutig, doch deckt sich diese Interpretation mit der Genfer Bibelübersetzung von 1560 und mehreren im angelsächsischen Sprachraum bis in die Gegenwart (!) gebräuchlichen Übersetzungen, darunter die bekannte King James Version. In deutschen Lutherbibeln der Nachkriegszeit liest man freilich: "...und ließ sie an Ziegelöfen arbeiten".

Was auch immer im Urtext gemeint sein mag, durch mehr als ein Jahrtausend nahm offensichtlich kein christlicher Theologe an einer solchen Passage Anstoß, noch weniger sehen sich moderne Vertreter der Zunft daran gehindert, denselben David auch heute noch als Vorbild zu empfehlen ("David gegen Goliath"!), obwohl dies ja nur ein einziges Beispiel unter allzu zahlreichen vergleichbaren Stellen ist, die bei auch nur bescheidenem ethischen Anspruch solcher Schönung bedürften. [BD]


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Nachweise
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