Zurück zur Homepage

Die Herrschaft der Server geht zu Ende

Mit dem Erfolg von "Napster", der Tauschgemeinschaft für Musikdateien, ist das Internet auch für die massenhaften Nutzer zu seinen egalitären Wurzeln zurückgekehrt: Alle kommunizieren mit allen, ohne dass zentrale Rechner in der Hand von Konzernen und Staaten sie kontrollieren und zensieren können

von ERIK MÖLLER

Der Begriff "Peer-to-Peer" ("Gleiche mit Gleichen") bezeichnet die Vernetzung von Computern ohne die Kontrolle durch einen übergeordneten Zentralrechner. Das Internet selbst ist ein Peer-to-Peer-Netz. Sein einziges zentralisiertes Element sind die Name-Server, die Namen (wie www.taz.de) in die eigentlichen (numerischen) Adressen umwandeln. (Kritiker sehen hierin einen idealen Ansatzpunkt zur Zensur.) Ansonsten werden Daten nach einem ausgeklügelten Verfahren von einem Rechner zum nächsten geleitet. Eben deshalb ist das Internet so erstaunlich stabil. Im Sommer letzten Jahres untersuchten US-Physiker in einer Simulation die Wirkung des Ausfalls einzelner Knoten. Das Ergebnis: Auch wenn fünf Prozent zufällig ausgewählter Knoten versagen, bleibt die Netzstruktur intakt, lediglich gezielte Angriffe auf die Hauptverkehrspunkte könnten eine Aufsplittung in kleinere Teilsegmente bewirken.

Der Rückschritt des World Wide Web

Die ersten Internet-Anwendungen waren so dezentral wie das Netz selbst: Eine E-Mail geht von einem Nutzer zum nächsten, ohne dass dabei ein Zentralserver vermitteln würde. Das Usenet, eine gigantische Sammlung von Diskussionsforen, funktioniert ähnlich: Die Diskussionsbeiträge werden von einem Rechner (Server) zum nächsten dupliziert wie ein Kettenbrief. Doch ab 1995 wurde das Internet zum Massenmedium. Verantwortlich dafür ist vor allem das World Wide Web, das auch den Weg in etliche Fernseh-Werbespots gefunden hat. Die Unterscheidung zwischen Informationslieferant und Informationskonsument trat damit wieder mehr in den Vordergrund. Wer die taz-Homepage besucht, ist eindeutig Leser (oder "Client" in Netzwerksprache), der Rechner, der die Anfrage beantwortet, ist der Server.

In einer solchen Konstellation, die traditionellen Medien gleicht, werden Ausfälle zum Problem. Wenn eine Site wie www.yahoo.com wegbricht, ist für Millionen plötzlich eine wichtige Informationsquelle abgeschnitten. Zensur wird einfacher, und so genannte "Censorware"-Pakete liefern gleich ganze schwarze Listen von Seiten, die man nicht sehen darf. (Der Jugendrechtsaktivist Bennett Hasleton hat deshalb ein kleines, subversives Programm für Windows 98 geschrieben, das die meisten dieser Pakete mit einem Klick ausschalten kann: www.peacefire.org/bypass/.

Ein Grund für die Herausbildung einer solchen, asymetrischen Struktur war die mangelnde Bandbreite auf Nutzerseite. Schlurfen statt Surfen und "World Wide Wait" waren sprichwörtlich, aber inzwischen wurde die Bandbreite massiv ausgebaut. Auch private Surfer können heute zehnmal schneller surfen als noch vor wenigen Jahren.

Eine Revolution
aus Deutschland

1998 begann dann auch der Siegeszug des schon vor Jahren am Fraunhofer-Institut Erlangen entwickelten Musik-Dateiformats MP3, das Songs ohne hörbaren Qualitätsverlust auf einen Bruchteil ihrer Größe schrumpfen lässt und so die digitale Übertragung möglich macht. Nun entdeckten Millionen Nutzer diese Technik und begannen, untereinander ihre Musiksammlungen zu tauschen. Diese Tauschaktionen waren oft "Peer-to-Peer" in Reinkultur: Nutzer A fragt Nutzer B, ob er Lied C hat. Meistens antwortete B aber nur mit "C? Nee! Aber D!", und man konnte weitersuchen.

Vereinfacht wurde dieses System durch das Programm Napster. Es schickt eine Liste von den eigenen MP3-Dateien an einen zentralen Server, den man dann durchsuchen kann. Man bekommt Meldung, wo sich welches Lied befindet, und kann es, manchmal schnell, manchmal weniger schnell, herunterladen.

Doch auch Napster war keine brillant neue Erfindung, sondern nur die unvermeidliche Konsequenz des Zuwachses an Bandbreite bei Privatnutzern. Zeitgleich mit Napster wurden viele ähnliche Programme entwickelt, die aus unterschiedlichen Gründen weniger Erfolg hatten.

Weil die über 40 Millionen registrierten Napster-Nutzer sich beim Tausch von Musik nicht um das Urheberrecht sorgen, wollte die US-Plattenindustrie den Dienst dichtmachen. Die folgende Auseinandersetzung wurde in den Medien wochenlang durchgekaut, und "Peer-to-Peer" wurde zum Buzzword am Neuen Markt. Die unglaublichen Wachstumsraten der Tauschbörse lockten Investoren an - allen voran den Bertelsmann-Konzern.

Dabei ist Napster für ein Peer-to-Peer-Netz ein denkbar schlechtes Beispiel: Die gesamte Liste der angebotenen Dateien befindet sich ausschließlich auf wenigen Servern in Redwood City, Kalifornien. Napster hatte in seiner Anfangszeit häufig Probleme mit Ausfällen - und auch der Datenverkehr lässt sich sehr wohl kontrollieren und zensieren. So wurde Bertelsmann im Dezember vom deutschen Verfassungsschutz gebeten, sich für eine Sperrung von Nazi-Liedgut auf Napster einzusetzen.

So vernünftig solche Forderungen in deutschen Ohren klingen mögen, so unrealistisch sind sie in der Praxis. Denn wenn man die Gesetze aller Internet-Länder auf Napster anwenden würde, bliebe wohl außer Heintje und Guildo Horn nicht viel übrig.

Das Netz macht die Freiheit unteilbar

Weil die Pioniere des Internet immer gegen Zensur waren, haben Hacker schon früh damit begonnen, Alternativen zu zentralen Peer-to-Peer-Systemen wie Napster zu entwickeln. Vor allem ein Programm machte von sich reden: Gnutella, eigentlich nicht viel mehr als ein frühzeitig geplatzter Versuchsballon. Das Gnutella-Netz arbeitet ohne zentralen Server, wie im Usenet werden Suchnachrichten von einem Rechner zum nächsten weitergeleitet. Wer etwas hat, schickt eine Antwort auf dem gleichen Weg zurück. Je mehr Nutzer den Dienst nutzen, desto mehr Daten muss der Einzelne deshalb verarbeiten. So verschlingt allein der Austausch der Suchmuster einen guten Teil der vorhandenen Bandbreite. Da die offizielle Gnutella-Entwicklung schon im März eingestellt worden war, verstopfte das Netz bald und war nur von Nutzern mit sehr schnellen Verbindungen nutzbar. Aber mittlerweile haben sich mehrere begabte Programmierteams des Problems angenommen. Ein Windows-Programm namens BearShare (www.bearshare.com) soll Gnutella so einfach nutzbar machen wie Napster und seine Schwächen mit vielen Tricks und Kniffen umgehen. Es wird sich zeigen müssen, ob es in Napster-Größenordnungen vordringen kann.

Ebenfalls viel Medienaufmerksamkeit erhielt das "Freenet"-Projekt des Iren Ian Clarke (freenetproject.org). Das Ziel ist ein dezentrales, anonymes Netz, das alle Daten verschlüsselt und an möglichst vielen Punkten speichert, um eine große Verfügbarkeit zu gewährleisten. Doch Freenet ist immer noch kompliziert zu installieren und zu benutzen, so dass sich das Medieninteresse rasch legte. Zu Unrecht: Die Entwicklung schreitet schnell voran, und wesentliche Bestandteile des Protokolls sind heute voll einsatzfähig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand auch dafür ein kleines, einfaches Windows-Programm schreibt. Das größere Problem von Freenet liegt anderswo: Es wurde soviel Zeit darin investiert, die Daten zu verstecken, dass es sehr schwer ist, sie wieder zu finden. Ein Großteil der Inhalte soll nun über Verknüpfungen erschlossen werden; es bleibt abzuwarten, ob das System hierfür zuverlässig genug ist.

Viele kleine und große Projekte verfolgen ähnliche Ziele wie Gnutella, Napster und Freenet (wer auf dem neuesten Stand bleiben will, kann sich bei den "Info-Anarchisten" schlau machen: www.infoanarchy.org). Zweifellos wird der direkte Datenaustausch von Nutzer zu Nutzer mit zunehmender Bandbreite wachsen. Und es ist völlig klar, dass die Nutzer dabei nur ein minimales Ausmaß an Zensur hinnehmen. Es gibt somit eine gewisse Tendenz zu freien, dezentralisierten Systemen.

Wer schützt die Kinder vor unserer Zensur?

Klar ist auch: Das Internet ist das einzige Instrument der freien Rede, das in Zukunft eine Rolle spielen wird. In den kommenden Monaten wird entschieden, ob es dabei bleibt. Schon im Jahr 2000 ging es Schlag auf Schlag: In Großbritannien kann man mittlerweile ins Gefängnis wandern, wenn man Daten verschlüsselt und auf polizeiliche Anforderung nicht wieder entschlüsseln kann. In Deutschland werden Provider für Nazi-Inhalte zur Rechenschaft gezogen, und findige Anwälte machen Jagd auf Privatleute, die Links auf die falschen Websites setzen. In den USA wurde im Dezember ein erneuter Versuch unternommen, eine Internet-Filter-Vorschrift für Schulen und Bibliotheken an ein unverdächtiges Gesetz anzuhängen und durchzuschmuggeln. In Frankreich versuchte man im Juli, Anonymität im Internet per Gesetz zu verbieten: Die Liste ließe sich schier endlos fortsetzen. Und mit Kinderpornografie hat man international einen gemeinsamen Feind gefunden, der fast jedes Mittel rechtfertigt. Anders aber als noch vor wenigen Jahren findet dieses Treiben keine große öffentliche Resonanz mehr. Damit wächst die Gefahr, dass die Freiheitschance des Internet verspielt wird.

Noch immer hat kaum mehr als ein Viertel der Bevölkerung hierzulande überhaupt einen Zugang zum Netz. Die Generation jedoch, die jetzt heranwächst, wird mit den Gesetzen leben müssen, die gegen diese Minderheit erlassen werden.

moeller@scireview.de
4.1.2001 taz, 308 Zeilen