Die Summe der Möglichkeiten

Der Humanist: Religion: Die Summe der Möglichkeiten
Von Matze am Montag, den 15. Juli, 2002 - 21:34:

Hallo,
ich weiß, ich kann es nicht lassen: Die Kritiker in Ihrer Kritik zu kritisieren.

Und zwar bin ich im Gästebuch auf folgenden "Impreativ" gestoßen:

"Handle stets so, dass sich die Anzahl deiner Möglichkeiten vergrößert."

Das ist eigentlich ziemlich mißverständlich und kann nach hinten losgehen: Denn Mord und antidemokratisches Denken kann die Anzahl MEINER Möglichkeiten vergrößern, was aber bedeuten würde, dass die Anzahl der Möglichkeiten meiner Mitmenschen eingeschränkt wird. Wäre nicht folgender Impreativ in Formulierung und Inhalt besser:

"Handle stets so, dass sich die Anzahl deiner Möglichkeiten und die Anzahl der Möglichkeiten deiner Mitmenschen, vergrößert, unter der Beachtung, dass deine persönlichen Freiheit ihre Grenzen in den Freiheiten deiner Mitmenschen endet."

Dieser Imperativ würde schon von seiner Formulierung für Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden sorgen. Er ist noch nicht sehr griffig formuliert, aber m.E. besser als der oben genannte.

Eine andere Frage die sich mir stellt ist, wie kann man sich alle Optionen offenhalten? Mit oder ohne Religion? Mit oder ohne Beteiligung an Vereinen? Ist das überhaupt offensichtlich?

Wenn es ein ewiges Leben gibt, erweitere ich eindeutig meine Möglichkeiten, wenn ich danach strebe - gibt es keins, schränke ich sie nur ein. Also kann dieser Imperativ nicht in die Religion eingreifen, da unendliche Antworten in diesem Fall unendliche Optionen schaffen.

Wenn ich mich nicht an Vereinen beteilige, riskiere ich, dass ich etwas nicht erlebe, das meine Optionen erweitert hätte. Andererseits schränken Bekanntschaften die Optionen u.U. ein.

Mir scheint, als wäre der mir genannte Imperativ schon dumm genug. Die Erweiterung von mir würde zu diesem Unfug nur die Sicherheit für Menschenrechte schaffen...

Gruß,

Matze.


Von Herbert Ferstl am Montag, den 15. Juli, 2002 - 23:13:

Hallo Matze,

Handle stets so, dass die Anzahl der Moeglichkeiten waechst.

Ich kopiere Dir der Einfachheit halber mal ein paar Ausschnitte von Statements zu diesem Thema (und ergaenze sie):

[...] Die Chance zur Verantwortung lernt der Mensch erst dann, wenn er sie fuer alle seine Handlungen auch uebernehmen kann. Denn je groesser die Freiheit, desto groesser sind die Wahlmoeglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, fuer die eigenen Handlungen Verantwortung zu uebernehmen.
Freiheit und Verantwortung gehoeren zusammen. Nur wer frei ist - und immer auch anders agieren koennte - kann verantwortlich handeln. Wer jemand die Freiheit raubt und beschneidet, der nimmt ihm auch die Chance zum verantwortlichen Handeln. Nur wenn die Freiheit des anderen vergroessert wird, folgt die vergroesserte Freiheit der Gemeinschaft.

Es gilt wie gesagt nur eines: Die Vielzahl der Moeglichkeiten zu bedenken, die man hat. Wir sind frei zu waehlen (wobei ich hier die Idee des nie wirklich freien Willens nicht aufgreife), wir sind frei uns zu entscheiden. Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, die Dinge so und nicht anders zu sehen, so und nicht anders zu handeln. So wie Du oder ich gerade das Leben "verleben", stellt es nur eine von unzaehligen Moeglichkeiten dar.

Gerade aber auf die Macht der Gefuehle sind Ideologien (und Religionen sind dies) aufgebaut. Nicht rational verifizierbare Fakten sind primaer ihre Inhalte (siehe z.B. Rassenideologie), sondern das oft das "dumpfe (Gluecks-?)Gefuehl", Gefuehle der Zusammengehoerigkeit, auch Angst (z.B. vor dem Tod) oder "dem Fremden" (und daraus resultierender Hass)...
Ideologien nehmen dem Menschen die Verantwortung fuer seine Sicht der Dinge ab. Sie schraenken DIE ANZAHL DER MOEGLICHKEITEN ein und somit die der Freiheit des Erkennens des selbstverantwortlichen Handelns.

Dazu auch ein Zitat von Heinz von Foerster, das Du ja schon kennst:
"[Warum soll man propagandistische] Schriften verbieten, die Bücher aus den Bibliotheken herausholen, weil sie nicht meiner Auffassung entsprechen? Die Alternative ist mörderisch. Wenn man die Wahlmöglichkeiten erweitert, dann kann man sich entscheiden, ein Kindermörder [Nazi] oder ein Schulbusfahrer zu werden. Die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg verknüpft einen mit der Verantwortung. Natürlich ist es bequem, sich zu entlasten, indem man etwas vebietet oder den Umständen, den Genen oder der Erziehung, nature or nurture, unserer Natur oder den bösen Eltern, die Schuld zu geben. Und es ist bequem, sich in einer Hierarchie zu verstecken und immer, wenn es eines Tages und am Ende des Krieges zum Prozeß kommt, zu sagen "Aber ich habe doch nur Befehle und Kommandos ausgeführt! Ich kann doch nichts dafür! Es gab doch gar keine andere Möglichkeit!". Das sind, so würde ich sagen, alles Ausreden."

Heinz v. Foerster hat schon vor vielen Jahren dargestellt, dass die Strategie des Verbietens - eine Art von Zensur - nicht funktioniert. "Sie macht alles nur noch schlimmer."
Insbesondere sieht man dies z.Z. bei uns in der BRD, wo seit Jahrzehnten nationalsozialistische Umtriebe und Embleme, etc. verboten sind. Auch durch ein Verbot der NPD wuerde sich diesbezueglich nichts, aber auch gar nichts aendern. So sehr ich auch dem linkslibertaeren Spektrum zuneige - und am liebsten heute statt morgen diese rechten Dumpfbacken aus dem Verkehr ziehen wuerde - ich bin strikt gegen ein NPD-Verbot. Diese Verbote bewirken absolut nichts in den Koepfen der latent rechtsanfaelligen Buerger (und Skins). Man sollte die Absurditaet neonazistischer Ideen durch andere Ideen, denen natuerlich auch die Moeglichkeit der Verbreitung gegeben werden muss, illustrieren - kurz:
intensive Aufklaerungsarbeit machen, den Dialog suchen und aufgreifen.

Nun - wer entscheidet aber was "richtig und falsch", "gut und boese", "schoen und haesslich" ist? Die Konsequenz, die sich aus der Beurteilung diesen absoluten Unterscheidungen ergibt, ist, dass man sich zum Richter emporschwingt und sich als der ewig Gerechte, der alles genau weiss, begreift.
Ist es aber nicht so, dass diese genannten (dualistischen) Unterscheidungen - die vermeintlich eine universale und absolute Gueltigkeit haben - gar nicht losgeloest von Personen getroffen werden? Tragen nicht gerade wir Menschen – und nicht irgendein (fiktiver) Gott - fuer ihre moegliche Durchsetzung die Verantwortung?
Wir selbst - wir Menschen haben diese Kriterien geschaffen und sind fuer deren (Nicht-)Durchsetzung verantwortlich.

Gruesse
Herbert


Von Matze am Dienstag, den 16. Juli, 2002 - 00:32:

Hallo Herbert,

"Ich kopiere Dir der Einfachheit halber mal ein paar Ausschnitte von Statements zu diesem Thema (und ergaenze sie): "

da ich nicht ganz weiß, was von dir stammt oder nicht, spreche ich zwar immer von "Du" wenn ich Anrede, aber wer "Du" ist weiß ich leider nicht ganz...


"[...] Die Chance zur Verantwortung lernt der Mensch erst dann, wenn er sie fuer alle seine Handlungen auch uebernehmen kann. "

Gut, da könnte man sagen, in der christlichen Religion besteht sogar ein Zwang zur Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln.

"[...] Nur wenn die Freiheit des anderen vergroessert wird, folgt die vergroesserte Freiheit der Gemeinschaft. "

Dass der Urheber dieses Satzes, dies impliziert hat, nehme ich auch an - nur bezweifle ich, dass dieser Satz von Hans Wurst auch so verstanden wird. (Daher meine Kritik an der Formulierung)

"Es gilt wie gesagt nur eines: Die Vielzahl der Moeglichkeiten zu bedenken, die man hat. Wir sind frei zu waehlen (wobei ich hier die Idee des nie wirklich freien Willens nicht aufgreife), wir sind frei uns zu entscheiden. Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, die Dinge so und nicht anders zu sehen, so und nicht anders zu handeln."

Wahrheit nicht, aber Realität. Nur was ist die Reailtät? Doch letztendlich die Wahrheit, die wir ihr auferlegen...

"So wie Du oder ich gerade das Leben "verleben", stellt es nur eine von unzaehligen Moeglichkeiten dar. "

Sicher - die Frage ist nur (rein Philosophisch), wie groß scheinen die Möglichkeiten zu sein? Beliebig? Oder sind die verschiedenen Möglichkeiten usw. in der Geschichte und im Jetzt vorgegebene und von Aussen beeinflusste? Meine Antwort wäre hier: Ich weiß es nicht - letztendlich, weil ich nie den Verlauf der Welt überblicken kann und ich (wie jeder andere Mensch auch) durch meine geistige Welt die Realität überblende...

"Nicht rational verifizierbare Fakten sind primaer ihre Inhalte"

Die Geschichte Mohamets scheint relativ verifizierbar - die Jesus scheint dummerweise weder pos- noch negativ verifizierbar, fast als hätten sich um Jesu Person alle Wahrheiten gegenseitig bemüht, so viel wie möglich an Realität zu zerstören...

"(siehe z.B. Rassenideologie), sondern das oft das "dumpfe (Gluecks-?)Gefuehl", Gefuehle der Zusammengehoerigkeit, auch Angst (z.B. vor dem Tod) oder "dem Fremden" (und daraus resultierender Hass)... "

Richtig. Allerdings trift das auf die kalt-philosophische europäisch-christliche Theologie zu. Sicher auf einen großen Teil der Kirchenmitglieder bis vor 10 Jahren...

"Ideologien nehmen dem Menschen die Verantwortung fuer seine Sicht der Dinge ab. Sie schraenken DIE ANZAHL DER MOEGLICHKEITEN ein und somit die der Freiheit des Erkennens des selbstverantwortlichen Handelns. "

Nur soll mir nun jemand eine Ideologie nennen, die die Anzahl der Möglichkeiten nicht einschränkt und wenn es keine gibt, wer kann mir beweisen, dass die Anzahl der Möglichkeiten nicht mehr oder weniger eingeschränkt werden?

"[Warum soll man propagandistische] Schriften verbieten, die Bücher aus den Bibliotheken herausholen, weil sie nicht meiner Auffassung entsprechen? Die Alternative ist mörderisch. Wenn man die Wahlmöglichkeiten erweitert, dann kann man sich entscheiden, ein Kindermörder [Nazi] oder ein Schulbusfahrer zu werden. Die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg verknüpft einen mit der Verantwortung. Natürlich ist es bequem, sich zu entlasten, indem man etwas vebietet oder den Umständen, den Genen oder der Erziehung, nature or nurture, unserer Natur oder den bösen Eltern, die Schuld zu geben. Und es ist bequem, sich in einer Hierarchie zu verstecken und immer, wenn es eines Tages und am Ende des Krieges zum Prozeß kommt, zu sagen "Aber ich habe doch nur Befehle und Kommandos ausgeführt! Ich kann doch nichts dafür! Es gab doch gar keine andere Möglichkeit!". Das sind, so würde ich sagen, alles Ausreden."

In diesem Zusammenhang: Richtig. Nur sagt es rein gar nichts darüber aus, ob und welche Anschauungen Möglichkeiten erweitern oder einengen, sondern nur, dass man nie im Marsch der Trompeten laufen soll, bzw. als Mitmarschierer sich schuldig macht. (Wobei ich auch das kritisch Betrachte, da ich nie Mitmarschierer war und einfach nicht weiß, was es heißt in einer Diktatur zu leben)

"ich bin strikt gegen ein NPD-Verbot."

Ich auch: Wenn man die NPD verbietet, werden nur ein paar Nazileins noch wütender und gründen einfach eine neue Partei, oder gehen zu den REP oder der DVU.

"Diese Verbote bewirken absolut nichts in den Koepfen der latent rechtsanfaelligen Buerger (und Skins). Man sollte die Absurditaet neonazistischer Ideen durch andere Ideen, denen natuerlich auch die Moeglichkeit der Verbreitung gegeben werden muss, illustrieren - kurz:
intensive Aufklaerungsarbeit machen, den Dialog suchen und aufgreifen. "

Richtig. (Die EKD will übrigens mit der Dekade ohne Gewalt sowas anfangen, hab aber noch nicht ganz kapiert, was die wollen :-)))

"Nun - wer entscheidet aber was "richtig und falsch", "gut und boese", "schoen und haesslich" ist? Die Konsequenz, die sich aus der Beurteilung diesen absoluten Unterscheidungen ergibt, ist, dass man sich zum Richter emporschwingt und sich als der ewig Gerechte, der alles genau weiss, begreift. "

Daher finde ich das jesuanische Gebot "Richte nicht, sonst wirst du gerichtet" wichtig. Denn wer kann schon sagen, dass er so frei, gerecht und schuldlos ist um zu richten? Nur der, der allwissend und allrechtschafend ist...

"Tragen nicht gerade wir Menschen – und nicht irgendein (fiktiver) Gott - fuer ihre moegliche Durchsetzung die Verantwortung? "

Nach christlich. Auffasung ist die Verantwortung zur Durchsetzung am Menschen vor Gott (als allwissender und allseitsgerechter wäre er ja dann ein legitimer Richter). Dabei findet zwischen AT und NT eine eindeutige Verschiebung statt, von der Einhaltung primitiver Kultureller Regeln (Reinheitsgebote etc.) zu einem einfach, aber allumfassenden "K.O."-Ethik (an die sich leider kaum jemand hält, selbst wenn er behauptet, er halte sich daran).

Gruß,

Matze


Von oskar am Dienstag, den 16. Juli, 2002 - 16:17:

was du nicht wilst, das man dir tu, das füge auch keinem andern zu


Von Matze am Dienstag, den 16. Juli, 2002 - 20:31:

"was du nicht wilst, das man dir tu, das füge auch keinem andern zu "

Und was nützt das? Herbert's Imperativ schließt diesen Spruch nicht automatisch ein. (Ein absoluter Diktator handelt so, dass er eine große Zahl von Möglichkeiten hat und muss auch kaum Angst haben, dass man ihm was tut)...


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